Der Satz an der Wand

Über Schuld, Projektion und den neuen deutschen Wunsch nach Reinheit

Jeden Donnerstag fahre ich mit meinem Sohn nach Bremen zum Gitarrenunterricht. In der Vorstadt, in der wir wohnen, gäbe es zwar auch Musiklehrer, aber das sind meistens ältere Herren mit aufgeräumten Studierzimmern, festem methodischen Glauben und dem unausgesprochenen Konsens, dass ein Kind erst dann ein Recht auf Musik hat, wenn es drei Jahre lang systematisch die chromatische Tonleiter rauf und runter geübt hat. Es sind Menschen, bei denen sich das Erlernen eines Instruments anfühlt wie die Vorbereitung auf eine Zahnarztprüfung.

Also fahren wir in die Stadt, in ein Kulturzentrum im Bremer Viertel. Dort unterrichtet ein junger Musiker, der mit meinem Sohn Zelda-Melodien einstudiert und Iron Maiden nicht für ein Vergehen gegen die europäische Musikgeschichte hält. Mein Sohn liebt es. Und ich auch. Während er in einem kleinen Raum Gitarre spielt, setze ich mich ins Café. Dort riecht es nach Espresso aus der Siebträgermaschine und veganem Mandarinen-Käsekuchen, der verdammt gut ist. Hinter den Sofas steht ein Regal mit Büchern von Emma Goldman, Didier Eribon und einer beachtlichen Sammlung von 80er-Jahre-Kinderbüchern. An den Tischen sitzen Studierende mit Jutebeuteln und zerlesenen Erstausgaben von Judith Butler.

Ich komme aus Berlin, und in diesem Moment, zwischen Hafermilchschaum und dem halblauten Gespräch über koloniale Raumordnung, fühle ich mich für einen Augenblick wieder wie in der Hauptstadt. Nicht geographisch. Innerlich. Als hätte ich eine Frequenz wiedergefunden, die in meinem Leben in der Vorstadt verstummt war.

Denn dort, in der niedersächsischen Siedlung, in der wir leben, fühlt sich das Leben oft an wie ein Sonntag im perfekt geordneten Wartezimmer eines Urologen. Es gibt schöne Reihenhäuser, ein Gartencenter mit Hollywoodschaukeln, ein Fitnessstudio mit Geräten, die sich automatisch auf das Alter der Kundschaft einstellen, und eine Bäckerei mit Sonntagsbrötchen, die „Aktivfit“ heißen. Alles ist freundlich, verlässlich, beige.

Im Kulturzentrum dagegen: Dreck, zersessene Sofas, Aufbruch, Plakate, Plenum. Überall Flyer, Sticker: „8. März – feministischer Kampftag“, „Kein Mensch ist illegal“, „Antifaschistische Perspektiven auf Stadtentwicklung“. Es kleben Sticker mit schwarzen Katzen, Regenbogenfahnen, „Bremen bleibt stabil“.

Und ehrlich gesagt: Auch wenn ich vieles davon nicht mehr teile, erkenne ich mich darin wieder. Ich war selbst einmal jemand, der diese Sätze druckte, klebte, aushing. Ich weiß, wie wichtig es ist, zu träumen, zu überzeichnen, zu kämpfen. Ich gönne den Menschen hier ihre Parolen, auch die Übertreibungen. Ich billige ihnen zu, zu plakatieren, auch wenn ich heute vielleicht die leisen Zwischentöne suche. Ich schätze sie für ihre Haltung. Und fühle mich innerlich zu Hause.

Bis ich aufs Klo gehe.

An der Klotür, in dicken Lettern mit Edding geschrieben, steht:
FREE PALESTINE FROM GERMAN GUILT

Ein Satz. Fünf Worte. Und alles, was ich vorher noch dachte und fühlte, fällt in sich zusammen. Weil hier nichts mehr symbolisch ist. Nichts ironisch, nichts plakativ. Keine Attitüde, keine Pose. Es ist der Moment, in dem der Überbau aus Haltung, Gewissheit und wohlmeinender Nostalgie in sich zusammenbricht.

Ein Satz, nackt, unverstellt, fast unbeholfen. Kein Appell, kein Argument, kein Gedicht. Sondern ein brachialer Wunsch. Nicht für Palästina. Für uns. Für jene, die diesen Satz schreiben. Für das Publikum, das ihn lesen soll. Für die Szene, aus der er kommt. Für eine Linke in Deutschland, die offenbar mit ihrer eigenen Geschichte nicht mehr zurechtkommt.

Wandtext auf einer Klotür im Bremer Viertel: Linker Judenhass, fett mit Edding. (Foto: Privat)

Denn was dieser Satz sagt, ist: Wir wollen uns moralisch ereifern dürfen. Endlich ohne das Gewicht der Erinnerung. Ohne die ständige Mahnung an das, was wir einmal waren. Ohne Israel. Ohne Auschwitz. Ohne jene historische Last, die das Erheben der Stimme an Bedingungen knüpft. Die Vergangenheit wird nicht mehr als Verpflichtung verstanden, sondern als störende Unreinheit. Die Schuld stört. Sie verhindert die klare Frontstellung. Sie verdirbt den Furor.

Und genau darin liegt das Verstörende. Der Satz ist kein Ruf nach Gerechtigkeit. Er ist eine Schlussstrichforderung, wie man sie kennt, nur anders getarnt. Nicht im Ton der Revanchisten, sondern in der Sprache des linken Erlösungsbedarfs. Was „Free Palestine from German Guilt“ meint, ist: Wir haben keine Geduld mehr für komplexe Erinnerungen. Wir wollen wieder wütend auf die Juden sein dürfen und zwar ohne Fußnote. Wir wollen frei sein für die eigene Entrüstung.

Aber diese Befreiung kann man nur finden, indem man die Schuld im Modus der Empörung umleitet. Der Nahostkonflikt eignet sich dafür nicht trotz Auschwitz. Sondern wegen Auschwitz! Er bietet die Gelegenheit, sich endlich wieder rein und entschieden zu positionieren. Israel ist der einzige Ort auf der Welt, an dem sich deutsche Schuld durch moralische Überlegenheit kompensieren lässt. Für Gaza kann man protestieren, schreien, verurteilen. Mit reinem Herzen, weil man sich dabei reinwäscht. Die Vergangenheit wird nicht verdrängt, sondern umgedeutet. Nicht mehr: „Wir haben zugesehen, wie Juden vernichtet wurden“, sondern: „Wir schauen nicht weg, wenn Juden Unrecht tun.“

Die Schuld ist nicht verschwunden. Aber sie hat eine neue völlig verdrehte Richtung gefunden.

Das perfide daran ist: Am Ende wird die Schuld, die man endlich abstreifen will, denjenigen aufgebürdet, die sie einst erlitten. Statt die historische Verantwortung anzuerkennen, wird sie auf die Juden projiziert, die durch ihre bloße Existenz an sie erinnern. Und so wird aus „Nie wieder Auschwitz“: „Nie wieder Schuld“.

Dass sich der moralische Furor bevorzugt auf Israel richtet und nicht etwa auf die systematischen Massaker in Darfur, ist dabei kein Zufall. Denn obwohl Darfur viel höhere Opferzahlen hat als Gaza, lässt es sich nicht verwenden. Keine Projektionsfläche, kein moralisches Ventil. Dort sterben Menschen, aber sie lösen nichts in uns aus. Kein historisches Echo, kein ideologischer Kurzschluss. Die Täter sind falsch (weil Araber), die Opfer zu fern (weil Schwarzafrikaner). Der Konflikt ist zu wenig konkret, zu sperrig, zu weit weg. Er eignet sich nicht zur Selbsterlösung. Also existiert er nicht.

Der Satz auf dem Klo: „Free Palestine from German Guilt“, bringt die Sehnsucht der deutschen Linken auf den Punkt. Man will sich endlich wieder gut fühlen, aber nicht durch Aufarbeitung, sondern durch Anklage. Man will sein wie die Linke in Irland oder Frankreich, ohne Ballast.

Und wenn das nur funktioniert, indem man das einzige jüdische Staatswesen zum Problem erklärt, dann muss eben Israel dafür herhalten. Das Land der Opfer, die sich einst bewaffneten, um nie wieder Opfer zu sein, wird nun beschuldigt, sich zu wehren. Die Lehre aus dem Holocaust lautet so nicht nicht mehr, lebende Juden von heute zu schützen, wenn sie bedroht werden.
Sie lautet: Wir passen auf, dass ihre Selbstverteidigung nie das Maß der Erlaubnis überschreitet, das wir ihnen still erteilt haben.

Das ist Judenhass in seiner deutschesten Anwendung. So wie Zvi Rex es einst bitterböse, aber treffend formulierte:
„Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.“

Mein Sohn kommt aus dem Unterricht. Erzählt von einem Stück, das er fast kann. Von einem Deep Purple-Riff. Ich nicke, bin stolz. Wir steigen ins Auto. Die Vorstadt kommt zurück. Reihenhäuser, saubere Straßen, Gartencenter, Aktivbrötchen.

Aber in mir hallt dieser Satz nach: FREE PALESTINE FROM GERMAN GUILT

Eine Anklage. Nicht gegen Israel. Sondern gegen jene von uns, die weiter daran erinnern wollen, wer wir Deutschen einmal waren. Es ist eine Schlussstrichforderung. Nicht mit Glatze und Springerstiefeln, nicht mit AfD-Account, Martin-Sellner-Boys oder Burschenschaftsbart. Sondern mit Antifa-Sticker, Judith Butler und veganem Käsekuchen.

Vorgetragen von einer Welt, die mir immer noch vertraut vorkommt. Ich kenne den Gestus, das Pathos, die Sehnsucht. Und lange dachte ich, ich hätte mich nur entfernt. Aus biografischen Gründen: Familie, Arbeit, Kinder, Vorstadt. Der Preis der Erwachsenwerdung. Ich dachte, ich könne die da in der Stadt, in ihren Hausprojekten, in Ruhe weiterträumen lassen. Die, die da kleben, skandieren, schreiben. Ich hatte keine Lust, ihnen die Parolen schlechtzureden. Weil jeder sie haben darf. Und weil ich sie einmal auch gebraucht habe.

Aber dieser Satz hat etwas zerbrechen lassen. In meinem Bild von der Szene. Vom Viertel. Ich bin dorthin gefahren, um dem Tonleiter-Deutschland zu entkommen, dem Staub der Reihenhäuser, dem faden Mittagsgrinsen der Vorstadt. Und ausgerechnet dort treffe ich, in einer Deutlichkeit, die mich überfordert, das, was ich sonst nur am Stammtisch erwartet hätte: Den alten Judenhass. In einem Raum, der sich für mich einmal wie ein sicherer Ort angefühlt hat. Der gleiche Hass. Codiert, aber deutlich. Eingerahmt von Büchern, die ich mochte. Von Gedanken, die mir einmal wichtig waren.

Ich habe die Sicherheit überschätzt, mit der ich dachte, zu wissen, wo das Richtige wohnt. Alles ist fragil geworden. Die politischen Gewissheiten, die moralischen Koordinaten. Vielleicht ist das der eigentliche Schock: Dass man nirgends mehr hingehen kann, ohne dass einem der alte Hass entgegenschlägt. In neuer Sprache, mit sauberem Gewissen: Rechts wie links.