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Texte und Töne aus der Rauschenzone des Weltgeschehens

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  • DAUERT NOCH EIN BISSCHEN – ABER WIRD MEGA!

    Als ich einmal dachte, wir fahren nur am ICC vorbei.

    Gestern war ich mal wieder in Berlin. Eine Tante in Charlottenburg hatte eingeladen. Und auf dem Weg dorthin kamen wir am ICC vorbei. Schon als Kind fand ich das ICC toll. Ein Alien in Aluminium, das sich noch nicht entschieden hatte, ob es eine Konferenz oder den Weltuntergang ausrichten will. Es hatte keine Fenster, sondern Sehschlitze. Keine Eingänge, sondern Andockstellen.

    Direkt gegenüber lag „Panda II“, der Lieblings-Chinese meiner Eltern. Von dort aus habe ich als Kind immer auf das ICC geschaut wie auf ein schlafendes Tier. Der Blick auf die A100 darunter, diesen gordischen Verkehrsknoten, war wie Fernsehen. Viele sagen, dieser Ort sei sei hässlich. Ich finde, es ist einer der schönsten Orte der Welt.

    Na jedenfalls, gestern also: Fahrt durch Charlottenburg. Ich saß hinten im Auto, die Fensterscheiben leicht beschlagen, draußen diese typische Berliner Novemberstimmung: grau, eklig, ein bisschen wie ungeklärtes Abwasser in Stadtform. Und dann sehe ich am ICC eine Plane: „DAUERT NOCH EIN BISSCHEN – ABER WIRD MEGA!“

    Das ICC im Novemberlicht. Ncht mehr ganz von dieser Welt. Foto:privat

    Berlin in einem Satz! Gleichzeitig Ausrede, Drohung, Liebesbrief und Witz. Der Satz klingt wie: „Jaja, wir sind seit 2014 dicht, aber trust the Prozess.“ Ich wollte lachen. Ich wollte fluchen. Aber dann verstand ich etwas: Wir wurden jahrelang getäuscht.

    ###ZEITSPRUNG### 

    BZ – BERLINER ZEITUNG
    Ausgabe vom 21. November 2082

    RAUMSCHIFF! ICC hebt ab! Berlin fällt zurück in die Achtziger! Stadtschloss „PLOPP“ weg!

    Berlin: Es ist 05:42 Uhr am Donnerstagmorgen, als die Hauptstadt für einen Moment stillzustehen scheint. Ein tiefes Summen liegt über dem Messedamm. Anwohner berichten von vibrierenden Gläsern in der Vitrine, leicht tanzenden Deckenlampen und einem „komischen Ziehen im Bauch“. Und dann geschieht es: Das ICC hebt ab!

    „Ick dachte erst, dit ist wieder so’n TÜV-Test“, sagt Busfahrer Kevin T. (61), der mit der Linie X34 gerade am Theodor Heuß Platz ist. „Aber dann flog dit Ding einfach hoch!“

    Um 05:47 Uhr fahren plötzlich hydraulische Ständer aus dem Boden. Sie waren seit 100 Jahren versteckt! Mit einem Geräusch, das wie eine Mischung aus kaputter Küchenmaschine und VHS-Player klingt, stemmt sich das ICC nach oben. Zentimeter, dann Meter. Es schwebt!

    Seit Jahrzehnten war das ICC offiziell stillgelegt: Sanierungsfall, Asbest, Energiefresser, „unklare Nutzungsperspektive“. Nun stellt sich heraus: Es war nie ein Kongresszentrum. Sondern ein getarntes Raumschiff. Eine Flaggschiff der sogenannten Raumschiff-ICC-Klasse! Konstruiert als westberliner Verteidigungsmodul mit spezieller städtebaulicher Sensorik. Laut internen Unterlagen, die der BZ vorliegen, war das Schiff seit 1979 im Tarnmodus und sollte „im Fall gravierender architektonischer Fehlentwicklung“ automatisch aktiviert werden. Kritischer Trigger: das wiederaufgebaute Stadtschloss in Mitte.

    Doch der Start des ICC wurde Jahrzehnte lang verhindert. Hervorgerufen durch ein Berliner Verwaltungswurmloch. Ein Genehmigungsantrag mit der Kennziffer B7.2-Solarabkopplung („Nutzung des Luftraums durch fliegende Baukörper“) war 1984 im Bezirksamt Charlottenburg falsch abgeheftet worden und in einer digitalen Schwebeschleife gelandet. Erst bei einer Test-Digitalisierung alter Akten Anfang 2082 tauchte das Dokument wieder auf. Durch einen Software-Fehler wurde es dabei automatisch als „still genehmigt“ verbucht. Der Startbefehl war frei.

    „Wenn dit Formular nich verschütt jejangen wär, wär dit Ding schon abjeflogen, als se dit Schloss wider uffjebaut ham“, sagt eine Mitarbeiterin aus der Bauaufsicht, die anonym bleiben möchte. „Nu ham wa den Salat.“

    Um 06:10 Uhr schwebt das ICC in Richtung des rekontruierten Stadtschlosses. Es verharrt in der Luft, eine Luke öffnet sich, und ein gleißender Strahl schießt nach unten. Das Gebäude beginnt zu flimmern, dann zu verpixeln. Unter einem deutlichen „Plopp“ löst sich das Schloss vollständig auf. Augenzeugen berichten von einem kurzen, hellen Geräusch, „wie ein Luftballon, der in Zeitlupe platzt“.

    Zurück bleibt ein schimmernder Dunst auf dem Pflaster, der in der Morgensonne glitzert. Mehrere Passanten wollen einen Geruch wahrgenommen haben, den sie übereinstimmend als „Currywurst-mäßig“ beschreiben.

    Noch bevor der Staub sich legt, knistert auf 88,8 MHz plötzlich eine Stimme: „Berlinerinnen und Berliner! Wir melden uns aus dem Orbit.“ Auf den Geräten erscheint ein Hologramm. Der geklonte Altregierende Bürgermeister Eberhard Diepgen, daneben der holographische David Bowie im Ziggy-Stardust-Outfit. 

    „Das ICC hat eine architektonische Bedrohung neutralisiert“, erklärt Diepgen ruhig. Bowie ergänzt: „Wir wollten eigentlich schon früher starten, aber Sie wissen ja, wie das ist mit der Berliner Verwaltung.“ Laut seinen Angaben sei der Abflug mehrfach „aufgrund unvollständiger Unterlagen“ verschoben worden. Erst der digitale Fehler von 2082 habe die Blockade aufgehoben.

    Während das Stadtschloss verschwindet, breitet sich vom Messedamm eine unsichtbare Welle über die Stadt aus. Zuerst sind es nur Details: Neonreklamen flackern, Glasfassaden wirken plötzlich matt, mehrere E-Scooter kippen wie auf Kommando zur Seite und bleiben reglos liegen. Dann wird der Effekt massiver. Großformatige LED-Bildschirme frieren ein und verwandeln sich in Reklameflächen aus Papier mit verblassten Marlboro-Logos. Am Ort des Humboldtforums erscheint der Palast der Republik, vollständig repliziert, inklusive Staatswappen der DDR, als wäre er nie weg gewesen. Sogar ein Trabbi knattert davor und sucht händeringend nach einer Tankstelle für Mischkraftstoff.

    „Ick hab fast ’nen Herzinfarkt bekommen“, sagt Ingrid S. (79) aus Köpenick, die zufällig vor Ort war. „Eben war noch dit Schloss, und auf einmal war da wieder unser Palast. Nur die Leute drumrum sahen aus wie Zukunft, mit ihre Brillen und Jeräten, die plötzlich keen Empfang mehr hatten.“

    Im gesamten Stadtgebiet melden Menschen merkwürdige Phänomene. Moderne Autos verlieren ihre digitale Anzeige, Radios schalten auf mono und spielen auf 100,6 in Endlosschleife das Deutschlandlied. An der oberen Kantstraße erscheint geisterartig ein Beate Uhse Komplex. Ein Mann in Friedrichshain will beobachtet haben, wie ein Coworking-Space in Echtzeit zu einem Foto-Laden mit Passbildangebot und Zigarettenregal rückverwandelt wurde. Auf der Avus tauchen plötzlich mehrere alte Mercedes W123 und ein einzelner VW-Käfer auf, die sich brav in Dreilinden zur Passkontrolle einreihen. In Kreuzberg berichten Anwohner, dass eine Craft-Beer-Bar vor ihren Augen wieder zur „Raucherkneipe mit Schultheiß und Dartscheibe“ wurde. Datenleitungen brechen zusammen, Streamingdienste zeigen Störungen, Lieferdienste bleiben stehen, weil ihre Apps nur noch „404: 1982 not found“ anzeigen.

    „Wir beobachten eine partielle Rückkehr in den städtebaulichen und kulturellen Zustand der frühen Achtzigerjahre“, sagt Stadtsoziologin Dr. Emilia Stern live im rbb. „Allerdings trifft diese Regression auf eine Bevölkerung, die mental längst im 21. Jahrhundert lebt. Das ergibt Spannungen.“ Die Eilmeldungen überschlagen sich. Die Polizei meldet „ungeklärte Veränderungen im Stadtbild“. Die BVG informiert, dass mehrere neu eingeführte Linien „vorübergehend entfallen“, während alte Liniennummern plötzlich wieder auf den Anzeigetafeln auftauchen. Ein Sprecher: „Warum jetzt wieder ein TXL-Shuttle-Bus fährt, können wir noch nicht sagen. Wir sind dran.“ Er ergänzt: „Die U5 verkehrt übrigens nur noch bis Alexanderplatz. Fernreisende bitte am Bahnhof Zoo einsteigen.“

    Der Senat gibt gegen 07:00 Uhr eine erste Stellungnahme ab. Man nehme die „Ereignisse rund um das ICC sehr ernst“ und habe einen „Historischen Krisenstab 1982“ einberufen. Man prüfe derzeit, ob der Abflug des ICC „genehmigungspflichtig“ gewesen sei und ob die rückwärtige Stadtverwandlung als „bauliche Veränderung“ zu werten sei.

    In der Abgeordnetenhaus-Sondersitzung fordert die Opposition die sofortige Einsetzung eines „Runden Tisches Orbitalverkehr Berlin“. Die Landesdenkmalpflegerin verlangt „ein Moratorium für raumfahrende Baudenkmäler“, die Piratenpartei „ein Recht auf Gegenwart für alle Berlinerinnen und Berliner“. Die Grünen möchten die „emissionsrechtliche Seite des Lichtstrahls“ geprüft wissen, die FDP sieht „enormes Start Up Potenzial für das ICC und ganz Berlin“, das gleichzeitig 1982 und 2082 ist. Ein Vertreter der Linken fordert „Mietpreisobergrenzen auch in der Vergangenheit.

    In Spandau erklärt ein Bezirksverordneter, man sei „faktisch schon immer von Berlin unabhängig“ gewesen und sehe „keinen Anlass, sich stadtweiteren Zeitanpassungen zu unterwerfen“. Eine Initiative fordert, das Strandbad Wannsee nun offiziell zum Regierungssitz zu machen: „Da weiß man wenigstens, woran man ist: Wasser, Wald, Wurst.“ Der Verein „Bierpinsel bleibt“ bietet an, den Turm in Steglitz zum „Kontrollzentrum für Raum-Zeit-Verwerfungen“ auszubauen.

    Architekturhistoriker Prof. Jonas Sieber von der TU ordnet das Geschehen im rbb ein: „Wir haben das ICC jahrlang falsch interpretiert, nicht als Fehlplanung, sondern als Schutzmechanismus.“ Auf die Frage, ob die Stadt jetzt dauerhaft im Jahr 1982 festhänge, antwortet er: „Nein. Sie hängt gleichzeitig im Jahr 1982, 2022 und 2082. Berlin war schon immer schlecht darin, sich für eine Zeit zu entscheiden.“

    Gegen 07:12 Uhr steigt das ICC höher, über den Funkturm, dreht eine langsame Runde über dem Tiergarten und beschleunigt. Auf der Außenhülle erscheint eine letzte Botschaft: „Macht´s jut und danke für die Wurst.“ Dann verschwindet das Raumschiff im Morgenhimmel.

    Auf dem Boden schließt Busfahrer Kevin T. die Tür seines X34-ers wieder auf, nimmt einen Schluck lauwarmen Kaffee aus dem Pappbecher und blickt kurz auf die Stelle, wo eben noch das ICC war. Hinter ihm liegt jetzt eine Art Brache, die irgendwie sehr stimmig aussieht. „Jut“, sagt er, setzt den Blinker und zieht an. „Denn ham der Diepgen und der Bowie doch unter eener Decke jesteckt… Hab ick doch schon imma jewusst.“

  • Der Satz an der Wand

    Über Schuld, Projektion und den neuen deutschen Wunsch nach Reinheit

    Jeden Donnerstag fahre ich mit meinem Sohn nach Bremen zum Gitarrenunterricht. In der Vorstadt, in der wir wohnen, gäbe es zwar auch Musiklehrer, aber das sind meistens ältere Herren mit aufgeräumten Studierzimmern, festem methodischen Glauben und dem unausgesprochenen Konsens, dass ein Kind erst dann ein Recht auf Musik hat, wenn es drei Jahre lang systematisch die chromatische Tonleiter rauf und runter geübt hat. Es sind Menschen, bei denen sich das Erlernen eines Instruments anfühlt wie die Vorbereitung auf eine Zahnarztprüfung.

    Also fahren wir in die Stadt, in ein Kulturzentrum im Bremer Viertel. Dort unterrichtet ein junger Musiker, der mit meinem Sohn Zelda-Melodien einstudiert und Iron Maiden nicht für ein Vergehen gegen die europäische Musikgeschichte hält. Mein Sohn liebt es. Und ich auch. Während er in einem kleinen Raum Gitarre spielt, setze ich mich ins Café. Dort riecht es nach Espresso aus der Siebträgermaschine und veganem Mandarinen-Käsekuchen, der verdammt gut ist. Hinter den Sofas steht ein Regal mit Büchern von Emma Goldman, Didier Eribon und einer beachtlichen Sammlung von 80er-Jahre-Kinderbüchern. An den Tischen sitzen Studierende mit Jutebeuteln und zerlesenen Erstausgaben von Judith Butler.

    Ich komme aus Berlin, und in diesem Moment, zwischen Hafermilchschaum und dem halblauten Gespräch über koloniale Raumordnung, fühle ich mich für einen Augenblick wieder wie in der Hauptstadt. Nicht geographisch. Innerlich. Als hätte ich eine Frequenz wiedergefunden, die in meinem Leben in der Vorstadt verstummt war.

    Denn dort, in der niedersächsischen Siedlung, in der wir leben, fühlt sich das Leben oft an wie ein Sonntag im perfekt geordneten Wartezimmer eines Urologen. Es gibt schöne Reihenhäuser, ein Gartencenter mit Hollywoodschaukeln, ein Fitnessstudio mit Geräten, die sich automatisch auf das Alter der Kundschaft einstellen, und eine Bäckerei mit Sonntagsbrötchen, die „Aktivfit“ heißen. Alles ist freundlich, verlässlich, beige.

    Im Kulturzentrum dagegen: Dreck, zersessene Sofas, Aufbruch, Plakate, Plenum. Überall Flyer, Sticker: „8. März – feministischer Kampftag“, „Kein Mensch ist illegal“, „Antifaschistische Perspektiven auf Stadtentwicklung“. Es kleben Sticker mit schwarzen Katzen, Regenbogenfahnen, „Bremen bleibt stabil“.

    Und ehrlich gesagt: Auch wenn ich vieles davon nicht mehr teile, erkenne ich mich darin wieder. Ich war selbst einmal jemand, der diese Sätze druckte, klebte, aushing. Ich weiß, wie wichtig es ist, zu träumen, zu überzeichnen, zu kämpfen. Ich gönne den Menschen hier ihre Parolen, auch die Übertreibungen. Ich billige ihnen zu, zu plakatieren, auch wenn ich heute vielleicht die leisen Zwischentöne suche. Ich schätze sie für ihre Haltung. Und fühle mich innerlich zu Hause.

    Bis ich aufs Klo gehe.

    An der Klotür, in dicken Lettern mit Edding geschrieben, steht:
    FREE PALESTINE FROM GERMAN GUILT

    Ein Satz. Fünf Worte. Und alles, was ich vorher noch dachte und fühlte, fällt in sich zusammen. Weil hier nichts mehr symbolisch ist. Nichts ironisch, nichts plakativ. Keine Attitüde, keine Pose. Es ist der Moment, in dem der Überbau aus Haltung, Gewissheit und wohlmeinender Nostalgie in sich zusammenbricht.

    Ein Satz, nackt, unverstellt, fast unbeholfen. Kein Appell, kein Argument, kein Gedicht. Sondern ein brachialer Wunsch. Nicht für Palästina. Für uns. Für jene, die diesen Satz schreiben. Für das Publikum, das ihn lesen soll. Für die Szene, aus der er kommt. Für eine Linke in Deutschland, die offenbar mit ihrer eigenen Geschichte nicht mehr zurechtkommt.

    Wandtext auf einer Klotür im Bremer Viertel: Linker Judenhass, fett mit Edding. (Foto: Privat)

    Denn was dieser Satz sagt, ist: Wir wollen uns moralisch ereifern dürfen. Endlich ohne das Gewicht der Erinnerung. Ohne die ständige Mahnung an das, was wir einmal waren. Ohne Israel. Ohne Auschwitz. Ohne jene historische Last, die das Erheben der Stimme an Bedingungen knüpft. Die Vergangenheit wird nicht mehr als Verpflichtung verstanden, sondern als störende Unreinheit. Die Schuld stört. Sie verhindert die klare Frontstellung. Sie verdirbt den Furor.

    Und genau darin liegt das Verstörende. Der Satz ist kein Ruf nach Gerechtigkeit. Er ist eine Schlussstrichforderung, wie man sie kennt, nur anders getarnt. Nicht im Ton der Revanchisten, sondern in der Sprache des linken Erlösungsbedarfs. Was „Free Palestine from German Guilt“ meint, ist: Wir haben keine Geduld mehr für komplexe Erinnerungen. Wir wollen wieder wütend auf die Juden sein dürfen und zwar ohne Fußnote. Wir wollen frei sein für die eigene Entrüstung.

    Aber diese Befreiung kann man nur finden, indem man die Schuld im Modus der Empörung umleitet. Der Nahostkonflikt eignet sich dafür nicht trotz Auschwitz. Sondern wegen Auschwitz! Er bietet die Gelegenheit, sich endlich wieder rein und entschieden zu positionieren. Israel ist der einzige Ort auf der Welt, an dem sich deutsche Schuld durch moralische Überlegenheit kompensieren lässt. Für Gaza kann man protestieren, schreien, verurteilen. Mit reinem Herzen, weil man sich dabei reinwäscht. Die Vergangenheit wird nicht verdrängt, sondern umgedeutet. Nicht mehr: „Wir haben zugesehen, wie Juden vernichtet wurden“, sondern: „Wir schauen nicht weg, wenn Juden Unrecht tun.“

    Die Schuld ist nicht verschwunden. Aber sie hat eine neue völlig verdrehte Richtung gefunden.

    Das perfide daran ist: Am Ende wird die Schuld, die man endlich abstreifen will, denjenigen aufgebürdet, die sie einst erlitten. Statt die historische Verantwortung anzuerkennen, wird sie auf die Juden projiziert, die durch ihre bloße Existenz an sie erinnern. Und so wird aus „Nie wieder Auschwitz“: „Nie wieder Schuld“.

    Dass sich der moralische Furor bevorzugt auf Israel richtet und nicht etwa auf die systematischen Massaker in Darfur, ist dabei kein Zufall. Denn obwohl Darfur viel höhere Opferzahlen hat als Gaza, lässt es sich nicht verwenden. Keine Projektionsfläche, kein moralisches Ventil. Dort sterben Menschen, aber sie lösen nichts in uns aus. Kein historisches Echo, kein ideologischer Kurzschluss. Die Täter sind falsch (weil Araber), die Opfer zu fern (weil Schwarzafrikaner). Der Konflikt ist zu wenig konkret, zu sperrig, zu weit weg. Er eignet sich nicht zur Selbsterlösung. Also existiert er nicht.

    Der Satz auf dem Klo: „Free Palestine from German Guilt“, bringt die Sehnsucht der deutschen Linken auf den Punkt. Man will sich endlich wieder gut fühlen, aber nicht durch Aufarbeitung, sondern durch Anklage. Man will sein wie die Linke in Irland oder Frankreich, ohne Ballast.

    Und wenn das nur funktioniert, indem man das einzige jüdische Staatswesen zum Problem erklärt, dann muss eben Israel dafür herhalten. Das Land der Opfer, die sich einst bewaffneten, um nie wieder Opfer zu sein, wird nun beschuldigt, sich zu wehren. Die Lehre aus dem Holocaust lautet so nicht nicht mehr, lebende Juden von heute zu schützen, wenn sie bedroht werden.
    Sie lautet: Wir passen auf, dass ihre Selbstverteidigung nie das Maß der Erlaubnis überschreitet, das wir ihnen still erteilt haben.

    Das ist Judenhass in seiner deutschesten Anwendung. So wie Zvi Rex es einst bitterböse, aber treffend formulierte:
    „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.“

    Mein Sohn kommt aus dem Unterricht. Erzählt von einem Stück, das er fast kann. Von einem Deep Purple-Riff. Ich nicke, bin stolz. Wir steigen ins Auto. Die Vorstadt kommt zurück. Reihenhäuser, saubere Straßen, Gartencenter, Aktivbrötchen.

    Aber in mir hallt dieser Satz nach: FREE PALESTINE FROM GERMAN GUILT

    Eine Anklage. Nicht gegen Israel. Sondern gegen jene von uns, die weiter daran erinnern wollen, wer wir Deutschen einmal waren. Es ist eine Schlussstrichforderung. Nicht mit Glatze und Springerstiefeln, nicht mit AfD-Account, Martin-Sellner-Boys oder Burschenschaftsbart. Sondern mit Antifa-Sticker, Judith Butler und veganem Käsekuchen.

    Vorgetragen von einer Welt, die mir immer noch vertraut vorkommt. Ich kenne den Gestus, das Pathos, die Sehnsucht. Und lange dachte ich, ich hätte mich nur entfernt. Aus biografischen Gründen: Familie, Arbeit, Kinder, Vorstadt. Der Preis der Erwachsenwerdung. Ich dachte, ich könne die da in der Stadt, in ihren Hausprojekten, in Ruhe weiterträumen lassen. Die, die da kleben, skandieren, schreiben. Ich hatte keine Lust, ihnen die Parolen schlechtzureden. Weil jeder sie haben darf. Und weil ich sie einmal auch gebraucht habe.

    Aber dieser Satz hat etwas zerbrechen lassen. In meinem Bild von der Szene. Vom Viertel. Ich bin dorthin gefahren, um dem Tonleiter-Deutschland zu entkommen, dem Staub der Reihenhäuser, dem faden Mittagsgrinsen der Vorstadt. Und ausgerechnet dort treffe ich, in einer Deutlichkeit, die mich überfordert, das, was ich sonst nur am Stammtisch erwartet hätte: Den alten Judenhass. In einem Raum, der sich für mich einmal wie ein sicherer Ort angefühlt hat. Der gleiche Hass. Codiert, aber deutlich. Eingerahmt von Büchern, die ich mochte. Von Gedanken, die mir einmal wichtig waren.

    Ich habe die Sicherheit überschätzt, mit der ich dachte, zu wissen, wo das Richtige wohnt. Alles ist fragil geworden. Die politischen Gewissheiten, die moralischen Koordinaten. Vielleicht ist das der eigentliche Schock: Dass man nirgends mehr hingehen kann, ohne dass einem der alte Hass entgegenschlägt. In neuer Sprache, mit sauberem Gewissen: Rechts wie links.


  • Die harte Wahrheit – Teil 3

    Industriepolitik ist die harte Wahrheit

    Dies ist Teil  3 einer siebenteiligen Serie über politische Strategie, Klimapolitik, Widerspruch und die Frage, wie Systeme überleben, die sich selbst nicht genügen. Wenn du Teil  1 und Teil 2 noch nicht gelesen hast, findest du sie hier: TEIL 1 und TEIL 2

    Die Texte entstanden im Rahmen einer Chinareise im September 2025, gemeinsam mit einer Wirtschaftsdelegation. Sie sind bewusst essayistisch, zugespitzt, manchmal spekulativ. Die Fakten stimmen im Großen. Die Perspektive ist meine. Feedback jederzeit willkommen.

    Vom Makel zur Marke: Wie „Made in China“ uns überholt hat

    Wenn man heute durch einen Huawei-Store in Shanghai geht, wirkt das wie ein Blick in eine Zukunft, die sich vom Westen entkoppelt hat. Nicht ideologisch, sondern technologisch. Smartphones, Tablets, Smartwatches, alles auf Augenhöhe mit Apple. Daneben: Autos. Elektrolimousinen, die aussehen wie die luxuriöse Kreuzung aus einem Tesla und einem Maybach. Preis? Rund 30.000 Euro. Fast unfassbar. Eine eigene Modellpalette, eigene Chips, eigenes Betriebssystem, eigene Supply Chain. Kein Spott, kein Nachbau. Hier steht nicht mehr „Made in China“ als Warnung. Sondern als Ansage. Und man fragt sich: Wie ist das passiert?

    Auch „Made in Germany“ war einst eine Schmähbezeichnung, eine britische Verbraucherschutzmaßnahme gegen billige deutsche Konkurrenz, gedacht als Warnhinweis für die Kundschaft: Vorsicht, das ist deutsche Billigware. England wollte seine Konsumenten vor der billigen Konkurrenz aus dem aufstrebenden Kaiserreich schützen. Doch das Label wirkte anders als gedacht. Es wurde zum Gütesiegel. Deutsche Produzenten verstanden es als Herausforderung und begannen, Qualität zu liefern, bis aus der Warnung eine Empfehlung wurde. „Made in China“ hat nun, leise und entschlossen, denselben Weg eingeschlagen. Zuerst kam die Masse, dann die Effizienz, jetzt kommt die Qualität. 

    Ein e-Auto im Huawei Flagship Store in Shanghai (Bild: privat)

    Und während sich das Bild im Ausland längst dreht, halten wir in Deutschland weiter an alten Narrativen fest. Als sei „Made in China“ immer noch ein Versprechen auf Reklamation. Als würde das alles schon wieder vorbeigehen. Doch das wird es nicht. Das Label, das einst ein Makel war, wurde durch politische Weichenstellungen und unternehmerischen Willen zur Marke. Deutschland war einmal der Emporkömmling, heute ist es China. Und wer daraus nichts lernt, wird morgen vielleicht nicht nur von einem neuen Billigstandort überholt, sondern von einem System, das ganz anders funktioniert. Vielleicht trägt dann nicht mehr ein Land, sondern ein Algorithmus das Etikett: „Made with AI“. Und wer dann noch immer auf alten Ruhm oder industrielle Beharrungskräfte setzt, wird auch diesen Wandel verschlafen und am Ende wieder nur staunend zusehen.

    Wie aus einer Zulassungsregel Industriepolitik wurde

    Während Deutschland also über ein Verbot des Verbrennungsmotors diskutiert, mal als Klimamaßnahme, mal als Symbolfrage, mal als Kulturkampf, hat China längst gehandelt, um seine Industrie zur besten der Welt zu machen. Nur eben anders. Kein spektakuläres Verbot, keine Sonntagsrede, keine Schlagzeile für Talkshows. Sondern: ein nüchterner Plan. Eine Abfolge von Entscheidungen, eine Architektur aus Anreizen, Vorteilen und staatlich orchestrierter Infrastruktur.

    In Städten wie Shanghai oder Peking entscheidet beispielsweise das Nummernschild darüber, ob man überhaupt ein Auto zulassen darf. Für klassische Verbrenner braucht es eine Lizenz, für die man sich in einem Zufallsverfahren bewerben muss: Die sogenannte Zulassungslotterie. Für Elektroautos? Keine Lotterie. Kein Warten. Einfach anmelden. Das ist Politik mit Wirkung.

    in China bedeutet ein Nummernschild wie dieses steuerliche Vorteile, freie Fahrt und strategische Industriepolitik. In Deutschland ist das E oft nur ein Aufkleber. (Bild: KI)

    Und in Deutschland? Deutschland hat seit 2017 etwa 1,9 Milliarden Euro für den Ausbau von Schnellladesationen ausgegeben. Auf dem Papier klingt das nach Entschlossenheit, immerhin ist es mehr als je zuvor. Es reicht für Modellprojekte, Ladeparks an Autobahnen, einige Fördertöpfe. 

    Aber China investierte allein bis 2022 rund 230 Milliarden Dollar in den Aufbau seiner Elektromobilität. Nicht punktuell, sondern entlang der gesamten Kette: Rohstoffe, Forschung, Batteriewerke, öffentliche Flotten, Schnelllader, Stromnetze. Das ist kein Zuschussprogramm, sondern ein industriepolitischer Rahmen, der die Spielregeln grundlegend verändert – ein echter Game-Changer. Dazu kamen Steuererleichterungen, städtische Privilegien, Schnellspuren, Zulassungsvorteile. Wer fragt, warum dort der Hochlauf gelingt, findet die Antwort in dieser Zahl: 230 Milliarden Dollar.

    In China fahren heute rund 70 Prozent aller E-Busse der Welt. In Deutschland: knapp 2.500. In Shanghai ist der öffentliche Nahverkehr in der Innenstadt längst emissionsfrei. Nicht, weil es eine gute Idee war, sondern weil es ein politischer Auftrag war. Weil Kommunen nicht nur durften, sondern mussten. Und weil die Mittel da waren. Kein Streit um Förderlinien. Kein Verteilungskampf zwischen Kommunen. Kein Antragsstau. Sondern Umsetzung.

    In Deutschland hingegen? Ein Zuschussprogramm. Eine Ausschreibung. Eine Debatte. Und ein Streit darüber, ob zuerst Berlin oder Buxtehude einen Antrag stellen darf. Wenn der Förderbescheid dann endlich kommt, ist die Technologie überholt und der Anbieter längst pleite. Es fehlt nicht an Engagement. Aber es fehlt an Architektur. Was bei uns wie Politik aussieht, ist oft ein Selbstgespräch der Bürokratie. Man macht irgendwann irgendwas, weil man vielleicht irgendeine Genehmigung hat, aber nicht, weil es in einen größeren industriepolitischen Plan passt.

    Wenn der Maßstab abhanden kommt

    Dabei wäre der fianzielle Maßstab auch in Deutschland leicht völlig anders zu setzen. Die gesetzliche Rentenversicherung beispielsweise kostet den Staat rund 120 Milliarden Euro: jedes Jahr. Nicht nur für Pflege oder Existenzsicherung, sondern zum Großteil für ein gut abgesichertes Drittel der Gesellschaft, das davon Kreuzfahrten bucht, Thermomix-Kurse besucht und sich energetische Sanierungen fördern lässt, die es sich auch ohne Förderung leisten könnte.

    Und während diese Milliarden Monat für Monat ganz selbstverständlich fließen (12 Milliarden pro Monat!), streitet die Politik darüber, ob man fünf Milliarden für eine Batteriefabrik oder zehn für einen Halbleiterfonds bereitstellen kann auf fünf Jahre gestreckt, mit Bedingungen, Evaluierungen, Deckelungen.

    Man stelle sich vor: Ein Viertel dieser jährlichen Rentensumme, 30 Milliarden Euro, über fünf Jahre investiert in Ladeinfrastruktur, Batterieproduktion, Halbleiterentwicklung, kritische Rohstoffe. Deutschland wäre nicht Bittsteller im globalen Wettbewerb, sondern Gestalter. Nicht nur trübes Vorbild aus alten Tagen, sondern ein echter aktueller Player. Aber stattdessen subventionieren wir Frühbucherrabatte auf der Aida für Rentner. Und wundern uns, warum in Shanghai Autos entwickelt werden, die in Deutschland nicht einmal geladen werden könnten.

    Und das hat Folgen. BYD hat die deutschen Hersteller längst überholt. Huawei verkauft Autos mit integrierter Software, Navigation, Sprachsteuerung und das unter einem Dach. Der Showroom in Shanghai sieht aus wie ein Apple Store, nur dass er neben Tablets und Smartphones Autos verkauft. Autos so luxuriös wie ein Maybach, so günstig wie ein Polo, so softwaregetrieben wie ein Tesla. Womit genau will Wolfsburg darauf eigentlich noch antworten? Mit dem Redesign des ID.3?

    Strategisch blind auf Sicht

    Der Punkt ist nicht, dass China „es besser macht“. Der Punkt ist: Es macht es mit System. China hat dafür seit Jahrzehnten ein Instrument: den Fünfjahresplan. Früher das Symbol einer zentralistischen Planwirtschaft. Heute: ein strategischer Rahmen, in dem Schwerpunkte definiert, Ressourcen gebündelt und Ziele operationalisiert werden. Keine Wunschzettel. Keine Worthülsen. Sondern ein Text, an dem sich Provinzregierungen, Ministerien, Konzerne ausrichten müssen. 

    Die USA machen das übrigens nicht viel anders. Nur da heißt die Industriestrategie „IRA – Inflation Reduction Act“. Heißt konkret: 369 Milliarden Dollar Investitionen in Infrastruktur in zehn Jahren. Kanada? Zieht nach. Südkorea? Ebenfalls. Und Europa? Führt Debatten darüber, ob ein Industriestrompreis verfassungsrechtlich zulässig sei. In der größten Exportnation der G7 einem Land, das auf seinen Ingenieurgeist genauso stolz ist wie auf seine Pünktlichkeit fehlt es nicht an Know-how sondern an strategischer Richtung.

    Und das ist der eigentliche Skandal: Jedes größere Unternehmen in Deutschland hat so etwas. Es nennt sich „Strategiedokument“. Es enthält Zielbilder, Investitionspfade, Notfallpläne. Und: Szenarien für den zweitbesten Weg. Denn wer langfristig denkt, weiß: Der beste Weg ist selten gangbar. Und wer das akzeptiert, plant besser.

    Der deutsche Staat hingegen? Hat nicht einmal eine konsolidierte Bilanz. Kein Lagebericht. Keine Rückstellungen für Brücken, Schulen oder Infrastruktur. Keine strategische Zielarchitektur, gegen die man politische Entscheidungen prüfen könnte. Und so betreiben wir Transformation auf Sicht und wundern uns über den Nebel. Dabei ist das Prinzip eigentlich simpel: Wer auf Zukunft setzt, muss sie auch möglich machen. Nicht durch Parolen, sondern durch Strategie.

    Wer keine Richtung vorgibt, sortiert nur Papier (Bild KI)

    Das Gegenteil von strategischer Industriepolitik ist übrigens die viel besungene „Technologieoffenheit“. Wer bei jeder industriepolitischen Entscheidung auf diesen Begriff verweist, aber keinen klaren Plan für Infrastruktur, Investitionen oder Versorgungssicherheit vorlegt, fordert nicht Offenheit, sondern verweigert sich, strategisch zu denken. Denn Offenheit ohne Entscheidung ist keine Strategie. Sie ist eine Ausrede. Ein Ausweichen vor dem, was es bräuchte: Richtung, Priorität, Verantwortung.

    Der Markt regelt das eben nicht allein. Wer darauf setzt, dass sich alles schon irgendwie von selbst sortiert, während andere Länder längst Industriepolitik mit Milliarden unterfüttern, der spielt nicht Zukunft, der pflegt ein Gefühl. Er betreibt Industriesentimentalität wie sie die FDP zur Meisterleitung gebracht hat. Und mit Sentimentalität gewinnt man keine Wahlen und keine Märkte. Nicht gegen BYD. Nicht gegen Huawei. Und auch nicht gegen den eigenen Stillstand.Industriepolitik ist die harte Wahrheit. Nicht, weil sie schön ist. Sondern weil sie funktioniert. 

    Wir können uns nicht länger darauf verlassen, dass der Markt die Transformation schon irgendwie regeln wird. Dafür ist der Zeitdruck zu groß, die Konkurrenz zu schnell, die geopolitische Unsicherheit zu tief. Der Markt kann Innovation – ja. Aber er braucht Richtung. Er braucht Zielarchitektur. Und er braucht Unterstützung, dort, wo Investitionen zu riskant oder zu langfristig sind, als dass sie sich von allein rechnen: bei Batteriefertigung, bei Halbleitern, bei kritischen Rohstoffen.

    Wertschöpfung ist kein Lieferdienst

    Gerade die Batterieproduktion ist dafür ein lehrreiches Beispiel. Noch vor wenigen Jahren wollte Porsche mit großem Aufwand eigene Zellen entwickeln. Jetzt wurde das Projekt gestoppt. Zu teuer, zu kompliziert, zu langsam. Stattdessen wird nun eben bei CATL gekauft. In China. Aus Sicht der Controller nachvollziehbar, aus Sicht der Industriepolitik fatal. Denn wer nur noch zukauft, verliert nicht nur Marge, sondern auch Technologiehoheit. Und Einfluss.

    Wer bei Schlüsseltechnologien nicht mitproduziert, wird zum Zulieferer derer, die es tun. Dann bleibt uns nur, das schicke Logo auf das zu kleben, was anderswo entwickelt wurde. Und das ist keine industrielle Souveränität sondern ist Markensentimentalität im Windschatten der Weltmärkte.

    Das ist übrigens keine Polemik, sondern eine reale strategische Gefahr. Denn Deutschland war nie einfach nur eine Werkbank, sondern ein Technologieland. Unsere Stärke lag immer in der Verbindung von Forschung, Entwicklung und Produktion. Genau diese Verbindung aber droht zu reißen. Wenn wir uns auf den Standpunkt zurückziehen, dass entscheidende Komponenten wie Batterien nur noch in Asien produziert werden,  während wir hierzulande Theorien, Normen oder Design liefern, dann unterschätzen wir, wie sehr Wertschöpfung, Wissen und Macht an die Produktion gebunden sind.

    Produktionskompetenz bedeutet nicht nur Fabriken. Sie bedeutet Know-how, Zuliefernetzwerke, industrielle Ausbildung, Einfluss auf Standards und strategische Souveränität. Wer all das auslagert, verliert über kurz oder lang auch die Fähigkeit, Innovationen selbst zu realisieren. Und er macht sich abhängig von Entscheidungen, die anderswo getroffen werden.

    Wer also glaubt, wir holen Teile und Technologien aus China, bauen das hierzulande zusammen, kleben ein Audi-Logo drauf und verkaufen das Ganze mit Aufschlag zurück, der denkt in einer Welt, die es so nicht mehr gibt. Schon heute liegt bei einem VW, der in China fährt, rund 95 % der Wertschöpfung in China. Umgekehrt? Wenn ein BYD in Deutschland unterwegs ist, bleibt hier: nichts. Keine Jobs, keine Steuern, keine industrielle Tiefe. Einfache Rechnung: NULL Prozent. Das ist kein Technologietausch. Das ist Etikettenschwindel und ein Vorgeschmack darauf, wie sich Abhängigkeit anfühlt.

    Wie Zukunft entsteht  und warum sie in Deutschland selten eine Adresse hat

    Was es in Deutschland also bräuchte, sind Umgebungen, in denen Zukunft überhaupt entstehen und Industrie wieder gedeihen kann. „Environments“, wie man in der Innovationsforschung sagt. Das wären Orte, in denen Forschung, Anwendung, Finanzierung und Produktion nicht nebeneinander existieren, sondern ineinandergreifen. Boston ist so ein Ort. Dort sitzt das MIT, ein öffentlich finanziertes Spitzeninstitut, das nicht nur Wissen produziert, sondern auch Unternehmen gründet. Rund um den Campus haben sich Hunderte Start-ups angesiedelt, oft gegründet von Absolvent:innen oder Professor:innen. Sie arbeiten mit der Industrie zusammen, mit Kapitalgebern, mit Behörden. Neue Ideen durchlaufen keine endlosen Genehmigungswege, sondern Testlabore. Der Unterschied zur deutschen Universitätslandschaft könnte größer kaum sein: Hier die Gliederung der Habilitation, dort der Prototyp.

    Labor To Go: Ein Coworking-Space in Bosten für Start Ups in der Life-Science Brance.

    Ein anderes Beispiel ist Israel. Auch dort gibt es eine dichte Innovationslandschaft. Aber sie speist sich aus einer anderen Quelle: Der Verbindung von ziviler Forschung, privater Technologieentwicklung und militärischer Anwendung. In Israel sind Sicherheitsinteressen kein Widerspruch zu technologischer Entwicklung, sondern deren Antrieb. Viele der bedeutendsten Start-ups des Landes, etwa in den Bereichen Drohnentechnologie, Cybersecurity oder Sensorik wurden von ehemaligen Offizieren oder aus Armeeprojekten heraus gegründet. Das Militär ist dort nicht nur Nutzer, sondern Impulsgeber. Und die Gesellschaft weiß: Wenn ein Unternehmen ein neues Verteidigungssystem, ein Frühwarnsensor oder eine Datenplattform entwickelt, dann ist das nicht nur ökonomisch relevant, sondern auch wichtig für aller Überleben.

    Natürlich ist Deutschland kein Israel. Aber die Ausgangslage verändert sich. Spätestens seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist die Vorstellung, Rüstung sei moralisch von Innovation zu trennen, nicht mehr haltbar. Eine Drohne kann töten, ja. Aber sie kann auch schützen. Und sie ist technologisch ein Hochleistungsprodukt: leicht, präzise, autonom, steuerbar in Echtzeit. Wer hier forscht, entwickelt Materialien, Steuerungssysteme, Sensorik, KI-gestützte Analytik. All das sind Schlüsselkompetenzen für andere Bereiche: Energie, Logistik, Landwirtschaft, Katastrophenschutz.

    Wenn wir in Deutschland eine industrielle Erneuerung wollen, dann nicht nur als Rückgriff auf die Vergangenheit aus Stahl, Autos und Chemie. Sondern als Fortschreibung mit neuen Mitteln. Die Rüstungsindustrie könnte, richtig verstanden, ein Schrittmacher sein. Nicht weil Krieg gut ist. Sondern weil Sicherheit eine Voraussetzung für alles andere ist: Für Demokratie, für Nachhaltigkeit, für gesellschaftliche Stabilität. Und weil viele technologische Umbrüche genau dort beginnen, wo der Druck am höchsten ist. Man muss es nur strategisch denken und institutionell ermöglichen.

    Industriepolitik bedeutet in diesem Kontext nicht, Geld zu verteilen. Sondern Räume zu schaffen, in denen das Neue überhaupt entstehen kann. Sie müsste dafür sorgen, dass Universitäten nicht nur Forschung betreiben, sondern Spin-offs gründen. Dass Ingenieur*innen, Informatikerinnen und Materialwissenschaftler nicht als Einzelkämpfer:innen arbeiten, sondern gemeinsam mit Finanzierinnen und Praktikern. Dass es nicht nur Gründerstipendien gibt, sondern auch eine Folgefinanzierung. Dass die Bundeswehr nicht nur bestellt, sondern mitentwickelt. Und dass man nicht jedes Mal zusammenzuckt, wenn das Wort „Militär“ in einem Innovationspapier auftaucht.

    Die Frage ist nicht, ob das geht. Sondern ob man es will. Und ob man erkennt, was auf dem Spiel steht.

    Die Bürokratie als strategische Bremse

    Wir befinden uns in einer Welt, in der technologische Souveränität nicht nur ein Begriff für Debattenrunden ist, sondern die Grundlage dafür, ob man politisch handlungsfähig bleibt. Wer keinen Zugriff auf kritische Infrastrukturen hat, wer keine Sensoren bauen, keine Netze kontrollieren, keine Speicher betreiben kann, der wird abhängig. Und zwar nicht in abstrakter Form, sondern ganz konkret: bei jeder Lieferung, jedem Update, jeder Wartung.

    Deshalb ist Industriepolitik, richtig verstanden, kein Selbstzweck. Sie ist kein Subventionskanal für Unternehmen, kein rückwärtsgewandtes Festhalten an Strukturen. Sie ist der Versuch, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Gesellschaften überhaupt noch Ziele verfolgen können; ökonomisch, ökologisch, sozial. Und in diesem Sinne ist sie auch die Voraussetzung dafür, dass Klimaneutralität mehr sein kann als ein Versprechen: nämlich ein realer Umbau. Mit Zustimmung. Mit Kompetenz. Und mit den Technologien, die dafür nötig sind.

    In letzten Teil dieser Serie (Teil 2) haben wir gezeigt, warum Wirkung politisch wirkmächtiger ist als Erzählung. Hier nun zeigt sich: Wirkung entsteht nicht durch Appelle. Sondern durch Environments. Und die entstehen nur, wenn man sie ermöglicht; strategisch, finanziell aber eben auch institutionell.

    Industriepolitik in der Gegenwart müsste deshalb auch Bürokratiepolitik sein. Nicht, um zu privatisieren. Sondern um zu ermöglichen. Wenn Klimaziele ernst gemeint sind, dann kann man nicht jahrelang auf ein Windrad warten, weil die Prüfstatik noch nicht abgestempelt ist. Wenn Versorgungssicherheit Priorität hat, dann muss der Ausbau kritischer Infrastruktur in Monaten funktionieren, nicht in Legislaturperioden.

    Ein Weg, hier neu zu denken, wäre: Verwaltung nicht als Selbstzweck zu verstehen, sondern als Infrastruktur. Und wie jede Infrastruktur muss auch sie modernisiert werden. Nicht kosmetisch, sondern grundlegend. KI-Systeme könnten dabei helfen, nicht um Entscheidungen zu ersetzen, sondern um Prozesse zu beschleunigen. Automatisierte Prüfung von Förderanträgen, intelligente Vergabeplattformen, digitale Planfeststellungsverfahren, prädiktive Ressourcensteuerung, das alles ist technisch längst möglich. Aber institutionell bislang kaum realisiert.

    Die Verwaltung ist das Rückgrat jeder Strategie. Wenn sie lahmt, lahmt das Ganze. Deshalb gehört zur Industriepolitik der Zukunft nicht nur Geld, nicht nur Planung, nicht nur Mut. Sondern ein Verwaltungsumbau, der Geschwindigkeit bringt, ohne Grundrechte zu schleifen. Und ein politischer Wille, der nicht nur sagt, was möglich wäre, sondern dafür sorgt, dass es auch geschieht.

    Der Fehler der Verdrängung: Wohlstand ohne Herkunft 

    Aber warum passiert das nicht? Nicht, weil „die Politiker™“ es nicht wollten. Sondern weil wir kulturell oft nicht industriefreundlich denken. Die größte Schwäche der deutschen Industriepolitik ist nicht, dass sie zu klein gedacht wird,  sondern, dass sie in vielen gesellschaftlichen Schichten überhaupt nicht gedacht oder bedacht wird. In weiten Teilen der Gesellschaft gilt Wohlstand nicht als Ergebnis, sondern als Zustand. Fast wie gutes Wetter oder innere Balance. Etwas, das einfach da ist, solange man sich zivilisiert verhält, demokratisch bleibt und sich möglichst oft auf der richtigen Seite der Geschichte wähnt

    Dabei gilt eine einfache Wahrheit: Geld muss erwirtschaftet werden. Auch jenes, das in Schulen, Universitäten, Theatern oder Sozialwohnungen fließt. Auch jenes, das BAföG finanziert, Kulturratshonorare, Rentenzahlungen, Lehergehälter und Beamtenpensionen. Und doch ist genau diese Erkenntnis in weiten Teilen der Gesellschaft in den Hintergrund gerückt. Viele Lehrer*innen, Verwaltungsangestellte, Kulturschaffende, NGOs und Aktivist:innen verstehen ihre Arbeit zu Recht als gesellschaftlich wertvoll aber übersehen oft, dass diese Wertschöpfung erst möglich wird, weil anderswo Wertschöpfung stattfindet.

    In der politischen Debatte wird häufig über das Gleichgewicht der Gesellschaft gesprochen. Selten jedoch über den Haken, an dem es hängt. (Bild: KI)

    Der Fehler liegt nicht im Idealismus. Sondern im ökonomischen Analphabetismus. Wenn in der politischen Bildung Deutschlands über Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit oder Diversität gesprochen wird, dann selten mit dem Hinweis darauf, dass selbst die besten gesellschaftlichen Ziele eine wirtschaftliche Basis brauchen. Man kann sich über Lieferketten empören, aber jemand muss sie betreiben. Man kann soziale Absicherung fordern, aber jemand muss die Produktivität erzielen, die sie langfristig trägt.

    Besonders deutlich zeigt sich das im Bildungssystem. Politische Bildung endet häufig bei den Institutionen, selten bei den Produktionsketten. Schülerinnen und Schüler lernen, was der Bundesrat ist, aber nicht, wie ein industrieller Standort funktioniert. Sie kennen die Verfassung, aber nicht die volkswirtschaftliche Bedeutung von Wertschöpfungsketten, Exportüberschüssen oder Industriebrachen. Wer in einer Gesellschaft aufwächst, die Industrie nur als Umweltproblem und nicht als Wohlstandsbasis kennt, wird schwer für eine strategische Industriepolitik zu gewinnen sein. Oder wie es ein Unternehmer aus Süddeutschland einmal mir gegenüber formulierte: „Wenn ich noch einmal hören muss, dass meine Maschinenhalle hässlich ist, aber der Bürgersaal schön, dann weiß ich: Wir haben etwas falsch erklärt.“

    Dahinter steckt kein böser Wille. Sondern eine kulturelle Verschiebung. Deutschland hat über Jahrzehnte  (auch durch den Erfolg seiner Industrie) eine bürgerliche Selbstverständlichkeit des Wohlstands entwickelt. Doch die Grundlage dafür war nie das bloße Dasein. Sondern eine klare ökonomische Architektur: eine starke industrielle Mitte, innovationsfähige Unternehmen, gut bezahlte Facharbeit, ein starker Export, produktionsnahe Forschung.

    Wenn diese Architektur zerbricht, durch technologische Abhängigkeit, durch regulatorisches Chaos, durch verpasste Investitionen, dann bricht mehr als nur ein Wirtschaftssektor. Dann bricht die Grundlage für das, was wir für selbstverständlich halten: Sicherheit, Bildung, Kultur, Gesundheit, Rechtsstaat.

    Industriepolitik muss deshalb mehr sein als ein Konjunkturpaket. Sie ist eine politische Form von Realismus. Und sie braucht, damit sie funktioniert, ein gesellschaftliches Verständnis dafür, woher der Wohlstand eigentlich kommt. Und was es bedeutet, ihn zu sichern.

    Industriepolitik ist die harte Wahrheit. Nicht, weil sie alle Probleme löst. Sondern, weil ohne sie nichts gelöst werden kann. Sie ist kein Gegenmodell zur Demokratie, kein Ersatz für Klimapolitik, kein Gegensatz zu sozialem Ausgleich, sondern deren Voraussetzung. Ohne wirtschaftliche Substanz kein Gestaltungsraum. Ohne produktive Basis keine Gerechtigkeit. Ohne industrielle Resilienz keine politische Souveränität.

    Wenn wir Demokratie, Klimaschutz und sozialen Zusammenhalt bewahren wollen, müssen wir anfangen, strategisch zu denken und zwar so konkret, wie es bislang nur unsere globalen Wettbewerber tun.

    Doch dafür braucht es mehr als Einsicht. Es braucht Mut, Klarheit, Verantwortung. Und vielleicht auch eine neue politische Kraft: Eine Partei, die Widersprüche aushält, ohne sich zu verlieren. Die Ziele benennt und Wege durchdenkt. Eine Partei, die nicht das meiste verspricht, sondern das Mögliche wahrmacht.

    In Teil 4 „Die Partei, die es bräuchte“ stellen wir die Frage: Wie müsste eine Partei aussehen, die Zukunft denkt, statt Vergangenheit verwaltet? Außerdem analysieren wir die Lebenslügen der etablierten Parteien: Warum die FDP auf Technologieoffenheit setzt, statt auf Strategie. Warum die SPD Gerechtigkeit beschwört, aber immer mehr junge Menschen zahlen lässt. Warum die Union Wohlstand verspricht, aber Zuwanderung verweigert. Und warum die Grünen Ökologie und Industrie noch immer nicht zusammenbringen.
    Die AfD bbleibt außen vor, nicht, weil sie keine Lebenslüge hätte, sondern weil sie selbst eine ist.

  • Die harte Wahrheit – Teil 2

    Die Lüge vom schnellen Wandel

    Dies ist Teil  2 einer siebenteiligen Serie über politische Strategie, Klimapolitik, Widerspruch und die Frage, wie Systeme überleben, die sich selbst nicht genügen. Wenn du Teil  1 noch nicht gelesen hast, findest du ihn hier: Die Texte entstanden im Rahmen einer Chinareise im September 2025, gemeinsam mit einer Wirtschaftsdelegation. Sie sind bewusst essayistisch, zugespitzt, manchmal spekulativ. Die Fakten stimmen im Großen. Die Perspektive ist meine. Feedback jederzeit willkommen.

    Je länger ich hier in China bin, desto klarer wird mir, woran wir in Europa womöglich scheitern: nicht an fehlender Einsicht, sondern an zu vielen Ansprüchen auf einmal.
    Wir wollen klimaneutral werden, ohne wirklichen Verzicht. Sozial gerecht bleiben, ohne Umverteilung. Geopolitisch unabhängig, ohne Industrieschutz. Und dabei moralisch konsequent. Alles auf einmal. Und möglichst sofort.

    In Sachen Transformation der Industrie geht die Erzählung so: Die Klimakrise ist existenziell, also handeln wir. Gründlich, ambitioniert, wissenschaftlich fundiert. Jedes Jahr neue Gesetze, neue Programme, neue Versprechen. Klimaneutral bis 2045. Verkehrswende, Wärmewende, Agrarwende, raus aus dem Fossilen, rein in die Erneuerbaren, bei stabilen Wohlstand und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Es ist ein schöner Plan. Und er ist richtig.

    Denn ja, die Lage ist dramatisch. Das CO₂-Budget ist fast aufgebraucht. Die Erde erwärmt sich schneller, als selbst pessimistische Szenarien vorausgesagt haben. Die Notwendigkeit des Wandels ist keine Meinung. Sie ist physikalisch. Und trotzdem, während ich aus meinem Hotelzimmer in Shanghai über Pudong blicke, beginne ich zu zweifeln, ob wir mit diesem Ansatz wirklich dort ankommen, wo wir hinmüssen.

    Ich sehe eine rote Fahne, überragt von einer Skyline aus Stahl, Glas und Ambition. Ein Bild, das jedem westlichen Ideal widerspricht, und gerade darin eine verstörende Kraft entfaltet. Denn hier ist der Widerspruch keine Schwäche. Er ist Methode. Nie wehte diese Fahne machtvoller. Nicht wie in der DDR, wo sie über einem System flatterte, das nicht einmal Kaffee für seine Grenzer bereitstellen konnte. Hier in Shanghai ist sie Symbol realer Macht, politisch, wirtschaftlich, kulturell. Und das Alles weil Deng Xiaoping bereit war, die Reinheit seiner Lehre aufzugeben, um Wirkung zu erzielen.

    Als Deng Anfang 1992 in den Süden reiste, tat er es ohne Mandat. Er war bereits 87 Jahre alt, ein uralter Mann, und doch überzeugt: wenn einer für China den richtigen Kurs setzen konnte, dann er.  Deng besuchte die Orte, wo das Land auf seine Anordnung versuchsweise ausprobierte, wie weit man sich dem Markt annähern konnte: Shenzhen, Zhuhai, Guangzhou.

    Überall, wo er ankam, sammelten sich die Menschen und hatten Fragen. Arbeiter in halbfertigen Fabriken. Parteikader, die nicht wussten, wie sie die nächsten Monate erklären sollten. Manager, die Investoren vertrösten mussten. Und Deng, mit dunkler Brille, Filzhut, in einem Mantel, der in den 70ern modern gewesen war, stellte sich hin und sagte seine berühmten Sätze über Katzen und Mäuse, über Reichtum und Reformen, über die Wahrheit der Entwicklung. (Vgl. Teil 1) Denn er wusste, was auf dem Spiel stand: Alles. Es war kein Akt der Begeisterung. Es war eine Notoperation.

    Denkmal für Deng Xiaoping an seinem Geburtsort

    Dengs Leistung für das heutige China besteht vor allem darin, dass er erkannte, dass der soziale Kitt der Zukunft nicht mehr aus Überzeugung bestand, sondern aus der Hoffnung auf ein besseres Leben. Und er begriff: Diese Hoffnung lässt sich nicht mit Parolen stillen. Sondern mit Wirkung. Mit Wachstum. Mit sichtbarem Fortschritt.

    Es waren keine großen Auftritte. Kein Pomp, kein Jubel, fast unscheinbar. Aber die Wirkung war eindeutig. Denn was Deng China ins Stammbuch schrieb war klar: Ideologie darf kein Hindernis für Wirksamkeit sein. Wenn das System überleben will, muss es liefern, nicht nur erzählen. Und es funktionierte. Als Deng zurück nach Peking kam, waren die Weichen gestellt Seine Reise hatte gewirkt. Nicht durch Gesetz, sondern durch die Autorität eines alten Mannes.

    Ein Jahr nach Dengs Reise in den Süden stiegen die ausländischen Direktinvestitionen in China um 140 %. Zwei Jahre später wurde Shanghai offiziell zur Sonderwirtschaftszone erklärt und entwickelte sich in atemberaubender Geschwindigkeit zu dem globalen Knotenpunkt für Handel, Industrie und Technologie, der die Stadt heute ist. Innerhalb eines Jahrzehnts war das Land zur Werkbank der Welt geworden. Nahezu jedes Smartphone, das wir heute in Händen halten kommt aus China. Reale Macht, nicht durch einen Masterplan, sondern durch ein strategisches Manöver gegen die eigene Orthodoxie.

    Und Deng? Er starb 1997. Ohne je wieder ein offizielles Amt bekleidet zu haben. Aber seine Reise in den Süden war der Anfang der chinesischen Gegenwart. Ein Moment, der nicht gefeiert, sondern umgesetzt wurde. Nicht durch Parolen, sondern durch Pragmatismus. Weil Deng den Mut hatte, Widerspruch als Mittel zu akzeptieren.

    Was, wenn genau das auch für uns gilt?

    Wenn das Ziel den Blick auf den Weg verstellt

    Fakt ist: In Sachen Klimatransformation kommt nicht einmal das, was wir längst angestoßen haben, so schnell voran, wie es müsste. Und gleichzeitig fliegt uns die gesellschaftliche Basis für den Umbau der Gesellschaft um die Ohren. Die Widerstände gegen den Umbau wachsen, während der Fortschritt stockt.

    Die Wärmepumpen stehen in den Katalogen, aber nicht im Keller. Der Wasserstoff bleibt ein Versprechen in PowerPoint Präsentationen des Wirtschaftsministeriums. Der Solarausbau stockt, die Genehmigungen lahmen. Die AfD liegt bei bald 30 Prozent. Und wir emittieren trotzdem weiter. Nicht, weil wir ignorant wären, sondern weil wir auf Dinge angewiesen sind, die sich nicht einfach abbestellen lassen: Wärme, Mobilität, industrielle Grundversorgung. Das ist kein Verrat am Ziel. Es ist schlicht eine bittere Notwendigkeit und deshalb eine Tatsache.

    Trotzdem reden viele Progressive so, als könne jetzt alles ganz schnell anders werden. Am besten gestern, aber in jedem Fall heute. Der Umbau soll sofort kommen, der Wandel als Normalfall erscheinen, das Neue in voller Geschwindigkeit anlaufen, ohne Reibung, ohne Rückfrage, ohne Rücksicht. Wer Zweifel anmeldet, gilt als zögerlich, wer Einwände hat, als Gegner. Doch hinter dieser Haltung verbirgt sich ein grundlegendes Missverständnis: Die Annahme, dass ein richtiges Ziel automatisch auch die eingesetzten Mittel legitimiert und ihre Wirksamkeit garantiert.

    Anders gesagt: Nur weil der Klimawandel real und belegt ist, folgt daraus nicht, dass jeder Schritt zu seiner Bekämpfung automatisch praktikabel ist. Die wissenschaftliche Klarheit des Problems: die Erwärmung, die Kipppunkte, die Bedrohung erzeugt zu Recht eine große Dringlichkeit. Aber Dringlichkeit ersetzt keine Umsetzbarkeit. Das Ziel mag eindeutig sein: Die Katastrophe aufhalten. Doch die Mittel; Abschaltung von Industrien, Umbau der Infrastruktur, Transformation ganzer Lebens- und Arbeitsbereiche sind nicht beliebig beschleunigbar. Sie stoßen an reale Grenzen: Ressourcen, Kapazitäten, gesellschaftliche Zustimmung.

    Wer Maßnahmen durchsetzt, die sozial, kulturell oder wirtschaftlich nicht tragfähig sind, erreicht nicht mehr Tempo, sondern Blockade. Und verliert im Zweifel nicht nur die Wirkung, sondern auch die politische Basis. Man kann das Morgen nicht allein durch Analyse beschließen, wenn das Heute nicht mitkommt.

    Schauen wir doch einmal genauer auf dieses “Heute”. Was ist es? Eine völlig erschöpfte Gesellschaft. Von Corona, vom Krieg in der Ukraine, von der Inflation, von Trump, Putin, Cum-Ex, von einem Jahrzehnt aus Krisen und Vertrauensverlust und einer Zone floodet with shit. Die demokratische Tragfähigkeit sinkt, die Legitimität unseres Systems wird von innen wie von außen herausgefordert.

    Und genau hier liegt die Paralelle zu China. Auch Deng stand 1991 vor so einer solchen Situation. Nach dem Massaker auf dem Tian’anmen war die chinesische Gesellschaft erschüttert, die Wirtschaft am Boden, die Sowjetunion zerfallen, das Land ohne Richtung. Deng wusste: Wenn wir auf Reinheit setzen, verlieren wir alles. Also stellte er die Logik um. “Entwicklung ist die harte Wahrheit”. Das Ziel Kommunismus blieb formell, aber der Weg dorthin wurde neu erfunden.

    Und was tut Deutschland im Jahr 2025? Es hält an einem Versprechen fest, das sich in seiner gegenwärtigen Form kaum mehr einlösen lässt: dass der Umbau zur klimaneutralen Gesellschaft nicht nur möglich, sondern auch sozial schmerzfrei und politisch konfliktfrei machbar sei. Dass man alles haben könne: Fortschritt, Gerechtigkeit, wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und ökologisches Verantwortungsbewusstsein, ohne die Grundarchitektur des Bestehenden ernsthaft zu erschüttern. Dieses Versprechen wird quer durch die demokratischen Lager getragen. Von links als moralischer Imperativ. Von der Mitte als Modernisierungspfad. Von konservativer Seite mit wachsendem Unbehagen, aber dennoch mit der Einsicht, dass Null Emissionen das Ziel sind.

    Was hinter der verbreiteten Erzählung vom reibungslosen Wandel steht, ist selten Illusion. Es ist eher ein psychopolitisches Gemisch aus Wunsch, Verantwortung und Angst. Der Wunsch, dass es wirklich so einfach sein möge. Dass sich Veränderung und Bestätigung nicht ausschließen müssen. Schließlich ist man in Deutschland seit 1945 daran gewöhnt, sich auf der richtigen Seite der Geschichte zu sehen, und nicht zu denen zu gehören, die sich später erklären müssen.

    Hinzu kommt die Verantwortung, das Land nicht zu überfordern. Niemand will derjenige sein, unter dessen Politik ganze Branchen kollabieren oder Regionen kippen. Und da ist die Angst, offen zu benennen, dass auch eine gute Transformation Verlierer kennt und dass deren Zahl groß sein könnte. Deshalb klammert man sich an die Vorstellung, dass Ziel, Weg und Wirkung schon irgendwie zusammenpassen werden. Oder wissenschaftlich ausgedrückt: an Kohärenz. So entsteht ein paradoxes Projekt: Eine Gesellschaft soll sich radikal verändern, ohne dass sich jemand ernsthaft verändern muss.

    Ein Politiker tanz auf einem Hochseil über die Herausforderungen der Kohärenz
    Das Kohärenz Dilemma

    Doch diese Spannung wird irgendwann ein unauflöslicher Widerspruch. Die gesellschaftliche Kohärenz, die man zu wahren versucht, wird zur eigenen Überforderung. Menschen erleben, dass ihnen viel abverlangt wird, finanziell, emotional, kulturell, aber wenig erklärt. Robert Habeck war der letzte in der deutschen Politik, der das ernsthaft versucht hat. Aber er scheiterte. Und so trifft der Alltag der Menschen auf einen Umbau der Welt, den sie nicht verstehen können und der ihnen Angst macht. Unter der Oberfläche der großen Ziele fühlt sich die eigene Lebensrealität bedroht: die Rentnerin, die im Winter nicht mehr heizt, weil die Kosten steigen. Der Handwerksbetrieb, der wegen der neuen Auflagen schließen muss. Die Eltern, die sich fragen, wie sie in einer autofreien Stadt drei Kinder zur Schule und zum Hockey bringen sollen.

    Was daraus entsteht, ist kein sofortiger Aufstand. Sondern ein allmähliches Abkoppeln. Erst mental, dann emotional, irgendwann politisch. Die Menschen hören auf, den Erzählungen zu glauben, weil sie sich darin nicht mehr wiederfinden. Sie erleben, dass ihnen viel zugemutet wird und wenig gelingt. Und sie erleben es nicht nur in der Debatte, sondern auch im Alltag: wenn der Bus wieder nicht kommt. Wenn der Kitaplatz fehlt. Wenn der neue Ausweis drei Monate dauert. Wenn die Steckdose im Zug nicht funktioniert, aber dafür der Strompreis steigt.

    Es sind keine großen Skandale. Es sind tausend kleine Zumutungen, die sich ineinander verhaken. Eine Infrastruktur, die knirscht. Eine Verwaltung, die nicht liefert. Ein politisches System, das Versprechen macht, aber keine Wirkung erzeugt. Die Geschichte des Aufbruchs wird erzählt, aber nicht gespürt.

    Und dann kommt der Punkt, an dem sich das Gefühl ausbreitet, dass diese Lücke nicht mehr kleiner wird, sondern größer. Es ist nicht Wut, die zuerst entsteht, sondern Müdigkeit. Rückzug. Das stille Einverständnis, dass man sich auf sich selbst verlässt – und auf niemand sonst. Erst später kommt Widerstand. Dann Radikalisierung. Und irgendwann, wenn es schlecht läuft, der politische Zusammenbruch. Nicht durch Rebellion, sondern durch Erschöpfung. Die Demokratie zieht sich zurück und überlässt das Feld den Feinden der offenen Gesellschaft, die weniger müde sind, weil sie nie Verantwortung tragen mussten. Und alles nur, weil man den Wandel nicht richtig erklärt, nicht ehrlich umgesetzt und nicht strategisch durchdacht hat.

    Was ich hier schreibe ist gerade keine Absage an den Wandel an sich. Sondern eine Erinnerung daran, dass auch politische Transformation ihren eigenen Gesetzen folgt. So hart und berechenbar wie physikalische Kräfte: Reibung, Trägheit, Rückkopplung. Wer sie das ignoriert, beschleunigt den Wandel nicht. Er verliert die Kontrolle. 

    Aber was ist in einer solchen Lage überhaupt noch möglich? Wenn das Ziel bleibt, aber der Weg blockiert ist? Wenn die Gesellschaft verunsichert, erschöpft, misstrauisch geworden ist, so wie China Anfang der 1990er. Wenn die politische Führung das Richtige will, aber nicht mehr durchdringt? Was dann?

    Die Kunst das zweitbeste zu tun

    Deng hat damals etwas umgesetzt, das in der Ökonomie als Second-best-Ansatz bekannt ist. Er stammt aus der Wohlfahrtsökonomie und beschreibt Situationen, in denen das optimale Ziel nicht erreichbar ist, weil zentrale Bedingungen fehlen. In solchen Fällen ist es besser, ein realistisches Ziel anzustreben, auch wenn es widersprüchlich ist. Wenn man nicht ideal handeln kann, sollte man wenigstens sinnvoll handeln. Kurz: pragmatisch. Zielorientiert. Uneitel. Für Deng bedeutete das: den Markt zuzulassen, um das System zu retten. Und für uns?

    Für die Klimapolitik heißt das: Es bringt nichts, sich eine reine Energiewende auszumalen, wenn es an Rohstoffen, Flächen, wirtschaftlicher Stärke, Genehmigungen oder gesellschaftlicher Zustimmung fehlt. Gerade das Letztere wiegt schwer. Eine Metzgerin auf dem Land, deren Betrieb gerade noch läuft, deren Kühlanlagen aber mit den Strompreisen kämpfen, empfindet das Wort „Transformation“ nicht als Aufbruch, sondern als Bedrohung. Wer heute mit dem Versprechen „klimaneutral bis 2045“ konfrontiert wird, ohne zu erfahren, wie sein Job und seine Existenz auf dieser Grundlage überleben, der hört irgendwann nicht mehr zu. Politik wird dann nicht mehr als Gestaltung erlebt, sondern als Zumutung. Und irgendwann als Übergriff.

    In dieser Lage könnte ein strategischer Gedanke helfen, wie ihn Deng einst verkörperte. Ein Denken, das die Kategorie des „verhassten Gegenteils“ nicht ausschließt, sondern einbezieht: nicht als Ziel, sondern als Mittel. Der Markt war für Deng kein Versprechen, aber ein Werkzeug. Genau darin lag seine Modernität: nicht in der Ideologie, sondern in der Reihenfolge der Prioritäten. Wirkung zuerst. Deutung später.

    Für uns heute könnte das bedeuten: fossile Energien gezielt dort zuzulassen, wo sie nötig sind, um den Übergang zu den Erneuerbaren überhaupt erst zu ermöglichen. Nicht, weil das moralisch wünschenswert oder wissenschaftlich geboten wäre, sondern weil es unter den aktuellen Bedingungen vielleicht der einzige Weg ist, langfristig den Umbau zu schaffen, ohne dass das System unterwegs kollabiert: Industrieschutz, wo er Beschäftigung sichert, Standortbindung ermöglicht und soziale Stabilität erhält. Subventionen nicht als Dauerprämien, sondern als strategisch eingesetztes Kapital, klar verknüpft mit der Erwartung, dass die begünstigte Industrie ihren Teil zum Umbau beiträgt. 

    Emissionen und Subventionen heute, damit morgen Windräder stehen. Weil Betonwerke, Kräne, Transportsysteme selbst noch lange nicht klimaneutral funktionieren. Investitionen in eine eigene Halbleiterproduktion, obwohl sie ineffizient ist, weil strategische Souveränität sich nicht an Marktkursen bemisst. Förderprogramme für die Autoindustrie, nicht um den Status quo zu bewahren, sondern um einen geordneten Umbau gegen die chinesische Übermacht überhaupt verhandelbar zu machen.

    Vielleicht auch: Kohle und Gas als Reserve, nicht aus Liebe zur Vergangenheit, sondern als Versicherung gegen das Scheitern. Und ein Strompreisdeckel nicht als ökonomische Kapitulation, sondern als Voraussetzung dafür, dass eine verunsicherte Mittelschicht den Umbau nicht nur erträgt, sondern mitträgt. Es wäre der Preis demokratischer Zustimmung. Denn ohne diese Zustimmung, ohne das politische Mandat der Vielen, bleibt selbst der beste Plan am Ende nur Theorie.

    Das ist kein Bekenntnis zur Beliebigkeit in den Maßnahmen. Im Gegenteil: Es ist der Versuch, in einer komplexen Gegenwart überhaupt noch gestaltbar zu bleiben. Wer zu lange nur das Richtige fordert, verliert irgendwann die Fähigkeit, das Mögliche zu tun. Und läuft Gefahr, am Ideal zu scheitern, bevor die Realität überhaupt die Chance hatte, sich zu bewegen

    Natürlich birgt ein solcher Kurs Risiken. Wer sich vom Ideal entfernt, öffnet Räume für Missbrauch, für Scheinlösungen, für opportunistische Schlupflöcher. Man kennt das: Die Ausnahmen werden zur Regel. Mittel für die Klimatransformation werden zweckentfremdet, um weiter zu emittieren. Frackinggas wird nicht überbrückt, sondern verlängert. Fördermittel versickern in Infrastrukturplänen, die am Ende Autobahnen werden. Aber der Preis für das Gegenteil, für das Festhalten an Zielen, denen die Mittel fehlen, ist höher. Wer an einem Ideal klebt, das sich unter realen Bedingungen nicht durchsetzen lässt, verliert nicht nur Wirkung, sondern Autorität. Dies haben die Grünen in den letzten 5 Jahren bitter erfahren müssen. Von der SPD gar nicht zu sprechen. Erst verdampft das Vertrauen, dann verflüchtigt sich die Zustimmung. Und irgendwann steht man zwar weiter mit der richtigen Idee da, aber ohne Mehrheit. Wenn die Lücke zwischen Anspruch und Vollzug zu groß wird, zerfällt das Mandat. Und mit ihm, über Zeit, die Demokratie selbst.

    Was es jetzt bräuchte, wäre daher eine Tugend, die in Deutschland spätestens seit Angela Merkel als unmodern gilt: Strategisches Denken. Diese Form des Denkens war einst Teil unserer politischen Kultur. In der Ära Helmut Schmidt war sie verbunden mit Nüchternheit, mit Realitätssinn, mit einem klaren Gespür für internationale Kräfteverhältnisse. Später geriet sie in Misskredit. In einer Politik, die zunehmend auf Sicht fuhr und an Gefühle appellierte „Sie kennen mich“ (Merkel), schien Strategie wie eine Zumutung aus der alten Welt. Doch heute, unter den Bedingungen des planetaren Umbaus, wäre genau sie wieder nötig.

    Strategie bedeutet: die Bereitschaft, sich vom Ideal zu entfernen, ohne es aufzugeben. Nicht aus Zynismus, sondern aus Ernst. Und aus der Einsicht, dass Politik mehr ist als moralisches Sprechen. Dass sie auch bedeutet, Spannungen auszuhalten, zwischen Anspruch und Realität, zwischen Zielbild und Lagebild.

    Ein historisches Beispiel dafür war der NATO-Doppelbeschluss. Helmut Schmidt entschied sich damals für eine Politik, die er selbst moralisch für problematisch hielt. Die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Europa, weil er glaubte, dass nur so das strategische Gleichgewicht und letztlich der Frieden erhalten werden konnte. Er verlor darüber sein Amt, seine Partei, seine Zustimmung, aber am Ende behielt Schmiddt recht. Der Beschluss wurde zur Grundlage einer jahrzehntelangen Phase der Entspannung, und läutete den Beginn einer langen Phase der Freiheit für Osteuropa ein.

    Schmidts berühmter Satz „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ wurde oft als Kaltschnäuzigkeit missverstanden. Dabei war er Ausdruck genau dieses Denkens. Nicht gegen Ziele. Sondern gegen Wunschdenken. Gegen die Idee, Politik könne sich aus dem Wollen speisen. Für Schmidt, wie später für Deng Xiaoping, der aus derselben Generation stammte, war Politik die Fähigkeit, nicht vom Ideal her zu träumen, sondern von der Lage her zu denken.

    Diese Haltung fehlt heute oft. Wir erzählen lieber Geschichten, in denen das Richtige automatisch gelingt. In denen Gerechtigkeit und Effizienz zusammenfallen, Wandel keinen Schmerz verursacht und Veränderung nur eine Frage des guten Willens ist. Vielleicht weil wir es in unserer historischen Erfahrung selbst oft so erlebt haben. Aber so funktioniert Realität nicht. Strategisches Denken wäre der Versuch, wieder damit zu rechnen, dass es Reibung gibt. Und dass man trotzdem handelt.

    Die eigentliche Zeitenwende wäre also nicht ein neuer Plan. Sondern eine neue Haltung zum Planen. Eine, in der nicht mehr nur gesagt wird, was sein soll, sondern strategisch gedacht wird, was nötig ist, damit es überhaupt Wirklichkeit werden kann. Nicht die Vision als Pose, sondern der Plan als transparente Zumutung.

    Das wäre die eigentliche Transformation: Eine Klimapolitik, die aufhört, eine saubere Geschichte zu erzählen, und anfängt, eine ehrliche zu machen.

    In Teil 3 – „Industriepolitik ist die harte Wahrheit“ – fragen wir uns, was dieser Plan eigentlich sein könnte. Wir blicken noch einmal nach China auf Fünfjahrespläne, abgestimmt auf Technologien. Wir schauen auf die USA mit ihrem Inflation Reduction Act als industriepolitischer Wette und wir stellen fest: Auch jedes größere Unternehmen in Deutschland hat heute eine Strategie. Und ein Szenario für den zweitbesten Weg, wenn der beste nicht erreichbar ist. Warum also nicht der Staat? Und was genau könnte dieser Plan sein?

  • Die harte Wahrheit – Teil 1

    Der funktionierende Widerspruch

    Dies ist Teil  1 einer siebenteiligen Serie über politische Strategie, Klimapolitik, Widerspruch und die Frage, wie Systeme überleben, die sich selbst nicht genügen. Die Texte entstanden im Rahmen einer Chinareise im September 2025, gemeinsam mit einer Wirtschaftsdelegation. Die Texte sind bewusst essayistisch, zugespitzt, manchmal spekulativ. Die Fakten stimmen im Großen. Die Perspektive ist meine. Feedback jederzeit willkommen.

    Manchmal kommt man ja rum. Ich jedenfalls bin zum ersten Mal in meinem Leben in China. Eingeladen als Teil einer Delegation, wie das so heißt. Vorträge, Kennzahlen, Besichtigungen. Alles sehr aufgeräumt, effizient, geleitet. Aber dann gibt es diese Momente, die sich nicht in Zahlen auflösen lassen. Momente, die nicht einfach informieren, sondern verstören. Die einen zwingen, genauer hinzusehen. Über das hinaus, was sich messen lässt.

    So einer ist der Blick aus meinem Hotelzimmer in Shanghai. Er geht nach Osten, über den Huangpu-Fluss hinweg, in den Stadtteil Pudong. Was vor 30 Jahren ein Brachland war, etwas Dschungel, ein paar Baracken, viel Schlamm, ist heute eine der modernsten Skylines der Welt. Türme aus Glas und Stahl, so hoch und schlank wie die Ambitionen. Eine vertikale Botschaft an die Zukunft. Und irgendwo dazwischen: eine rote Fahne. Nicht imposant, eher beiläufig. Aber sie ist da. Und sie stellt eine Frage, die sich nicht so leicht abschütteln lässt: Wie passt diese Symbolik des Kommunismus zu dieser Architektur des Kapitalismus?

    Die Skyline von Shanghai bei Nacht
    Die Skyline von Shanghai bei Nacht – Foto: Justus Wilhelm

    Widerspruch als Betriebsmodus

    Für westliche Augen ist das ein Widerspruch. Die rote Fahne steht für Einparteiensystem, Klassenkampf, Planwirtschaft. Die Skyline für Börsenkurse, Private Equity, Tech-Innovation. Und doch stehen sie hier nicht gegeneinander. Sie stehen nebeneinander. Ohne erklärendes Schild, ohne ironischen Kommentar. Es ist, als würde hier etwas zusammengehen, das bei uns immer auseinanderfällt.

    China ist heute eine autoritär regierte Industrienation mit einer leninistisch organisierten Staatspartei, die auf dem Papier dem Marxismus verpflichtet ist und zugleich einem Wirtschaftssystem, das in mancher Hinsicht kapitalistischer agiert als jede westliche Volkswirtschaft. Es gibt Venture-Capital-Fonds, Start-up-Kultur, Börsenboom. Und doch entscheidet am Ende nicht der Markt, sondern die Partei. Dass dieser Widerspruch hält, liegt nicht daran, dass er theoretisch gut begründet wäre. Sondern daran, dass er sich bewährt hat.

    Man könnte sagen: China ist das erste Land, das den Kapitalismus instrumentalisiert hat, ohne sich ihm ideologisch zu unterwerfen. Kapitalismus nicht als Endpunkt, sondern als Werkzeug. Nicht als Glaubenssatz, sondern als Methode. Das ist keine liberale Erfolgsgeschichte, aber eine strategische.

    Der Mann, der es entschieden hat

    Der beeindruckende Weg Chinas basiert nicht auf historischem Glück, sondern auf einer harten Entscheidung. Und diese Entscheidung hat einen Namen: Deng Xiaoping. Während Mao das revolutionäre Selbstbild Chinas prägte, war es Deng, der die Grundlagen für die ökonomische Realität legte, die wir heute bestaunen. Und das aus einer Lage heraus, die kaum schwieriger hätte sein können.

    1992 – Deng war 87, längst ohne offizielles Amt, aber mit uneingeschränkter Autorität. Drei Jahre zuvor hatte das Massaker auf dem Tian’anmen das Land erschüttert, der Westen hatte sich abgewendet, die Sowjetunion war implodiert. Das chinesische System wankte. Die Reformer waren entmachtet, die alten Kader zurück. Das Land stand an einem ideologischen Abgrund: Soll man sich wieder abschotten, oder den Sprung ins Ungewisse wagen?

    In dieser Situation der Unsicherheit reiste Deng in den Süden des Landes. Nicht nach Peking, sondern nach Shenzhen, Zhuhai, Guangzhou. In die Sonderwirtschaftszonen, die er selbst hatte schaffen lassen. Orte, an denen China heimlich ausprobierte, wie viel Kapitalismus es sich leisten konnte, ohne die Kontrolle zu verlieren. Und dort, inmitten von Baustellen und ersten Exportfabriken, sprach er die Sätze, die China bis heute prägen: „Einige dürfen zuerst reich werden“ und „Es ist egal, ob die Katze weiß oder schwarz ist, solange sie Mäuse fängt.“ Schließlich aber vor einer Schaar bestellter Arbeiter mit roten Fähnchen: „Entwicklung ist die harte Wahrheit.“

    Was Deng eigentlich meinte

    Das war kein Bekenntnis zur Marktwirtschaft. Es war ein Bruch mit der Ideologie, aber kein Bruch mit der Macht. Deng erkannte, was Gorbatschow falsch gemacht hatte: Der Vater von Perestroika und Glasnosk hatte politische Öffnung gewagt aber ohne ökonomische Leistungsfähigkeit. Deng drehte es nunum: Wirtschaftliche Freiheit aber politisch hart kontrolliert. Wachstum ja, aber gelenkt. Kapitalismus ja, aber auf Widerruf und ohne politische Freiheit.

    Daraus entstand ein System, das kein anderes kopiert, sondern sich selbst gebaut hat. Ein Modell, das Widerspruch nicht als Mangel, sondern als Strategie begreift. Die Zahlen sprechen für sich: Zwischen 1990 und 2020 wuchs das BIP um das 35-Fache. Über 800 Millionen Menschen wurden aus der Armut geholt. China ist heute der größte Exporteur der Welt, der größte CO₂-Emittent, aber auch zugleich der größte Investor in Erneuerbare. Es hat mehr Hochgeschwindigkeitsstrecken als der gesamte Westen. Und in Bereichen wie KI, E-Commerce und medizinischer Forschung ist es gleichauf mit oder vor den USA. Wenn irgendwo in den nächsten Jahren Krebs besiegt wird, dann sehr wahrscheinlich in China.

    Das ist nicht schönfärberisch. Es ist schlicht: reale Wirksamkeit.

    Und diese Wirksamkeit hat längst geopolitische Konsequenzen. China investiert weltweit in Infrastrukturen, schafft neue Institutionen, neue Allianzen. Es bietet nicht Ideologie an, sondern Funktionalität. Es sagt nicht: „Werdet wie wir.“ Es sagt: „Schaut, es geht auch so.“

    Die Börse in Shenzhen – Ein Erbe der Politik von Deng Xiaoping

    Und wir?

    Was also folgt daraus für uns, die wir auf diese Skyline blicken, vielleicht mit Bewunderung, vielleicht mit Sorge, wahrscheinlich mit beidem? Was lernen wir von einem Mann, der sagte, dass es in der Politik nicht auf das richtige Denken ankommt, sondern auf das funktionierende Handeln?

    Vielleicht dies: Dass auch wir beginnen müssen, Widersprüche auszuhalten, ohne sie sofort auflösen zu wollen. Dass auch wir in einer Lage sind, in der es nicht reicht, recht zu haben, sondern wirken zu müssen. Dass auch unsere politischen Systeme Legitimität nur behalten, wenn sie Wohlstand liefern können. Und dass das unter Umständen heißt: Industriepolitik zu machen, Versorgungssicherheit zu garantieren, Übergänge zu akzeptieren, die nicht perfekt sind, aber nötig.

    Deng hat nie behauptet, dass sein Weg ideologisch rein sei. Nur, dass er funktioniert.
    Und deshalb widersprechen sich die rote Fahne und die gläsernen Bürotürme nicht.
    Sie funktionieren miteinander. Und das sollte uns zu denken geben.

    Denn vielleicht liegt in diesem Widerspruch eine Logik, die auch wir für uns fruchtbar machen müssten. Nicht als Kopie, sondern als Ausgangspunkt. Für ein neues Verhältnis von Strategie und Moral. Für eine demokratisch liberale Politik, die nicht scheitert, weil sie alles richtig meint, sondern überlebt, weil sie wirkt.

    Denn moralische Reinheit überzeugt manche. Wirtschaftlicher Erfolg überzeugt alle.

    Vielleicht ist das die Zumutung, die bleibt, wenn man lange genug auf Pudong schaut.
    Und sich fragt, ob wir eigentlich bereit sind, ebenfalls hart zu entscheiden, bevor uns andere Entscheidungen abnehmen.

    Vielleicht ist der Satz, den wir für die großen Herausforderungen unserer Zeit brauchen, einer, der Deng erstaunlich nahe kommt. Ein Leitgedanke, der nicht aus Lust an Subventionen formuliert ist. Eine Strategie, die nicht als Rückfall in alte Rezepte der 90er gelesen werden muss. Sondern als strategische Notwendigkeit in einer Zeit, in der Wohlstand kein Nebenprodukt mehr ist, sondern die Voraussetzung für Klimaschutz, Demokratie und internationale Souveränität gegen Staaten wie Russland.

    Dieser Leitgedanke könnte heißen: Industriepolitik ist die harte Wahrheit.

    In Teil  2 – „Die Lüge vom schnellen Wandel“ verlassen wir Shanghai und blicken zurück nach Europa. Ausgehend von dem Dilemma, in dem Deng steckte (und das er durch den Bruch mit der eigenen Ideologie löste), stellen wir uns die Frage: Was tun, wenn das Ziel richtig ist, der Weg aber blockiert? Wenn Reinheit nicht trägt, aber Wirkung nötig wird? Während bei uns Wärmepumpen in Katalogen stehen und Wasserstoff ein Versprechen in PowerPoint bleibt, rückt eine unbequeme Frage in den Vordergrund: Müssen auch wir das Gegenteil von dem tun, was wir wollen, um im Spiel zu bleiben und unsere Interessen durchzusetzen? Vielleicht ist genau das die eigentliche Transformation.

  • Fear of the Fan

    Wie ich einmal mit meinem Sohn zu Iron Maiden ging und mir selbst begegnete

    Vor ein paar Tagen war ich mit meinem Sohn bei Iron Maiden. Keiner wollte mit. Kein Freund, nicht mal meine Frau, mit der ich sonst auf laute Konzerte gehe. Stattdessen: skeptische Blicke. Als hätte ich einen Betriebsausflug zu einem mittelalterlichen Schwertkampfturnier vorgeschlagen. Ich hörte es nicht direkt, aber ich spürte es: „Ist das noch was für dich?“ Oder schlimmer: „War das je etwas für dich? Echt jetzt?“

    Und ja, echt jetzt. Ich wollte dahin. Mit meinem Sohn. Weil es etwas in mir gibt, das da hingehört. Und weil ich jemanden dabeihaben wollte, der davon noch nichts wusste.

    Iron Maiden 2025: Zwei Pommesgabeln, ein Fan-Moment

    Ich war fünfzehn, als ich Iron Maiden zum ersten Mal hörte. 1997, ein Sommer in Sussex, Sprachreise, Lagerfeuer, billige Walkmen. Ein Mitschüler (ich weiß seinen Namen nicht mehr) hatte Fear of the Dark als Musikkassette dabei. Schon das Cover war überzogen. Ein knochiger Dämon aus einem Baum, mit leuchtenden Augen. Aber dann: diese Musik. Diese gebauten Songs. Afraid to Shoot Strangers, mit dieser beinahe pastoralen Einleitung, bevor das Lied langsam eine Spannung aufbaute, die fast wehtut. Childhood’s End, mit einer Doublebass, die mich an irische Stepptänzer denken lässt: kompromisslos, martialisch, aber irgendwie… organisch. Und natürlich der Titelsong Fear of the Dark, den wir nachts hörten, im Zelt, in einer Welt zwischen Schlafsack und Pubertät.

    Diese Songs waren anders als alles, was ich bis dahin gehört hatte. Sie wirkten wie Erzählungen, nicht wie Tracks. Architektur, keine Playlist. Und sie waren in dieser Umgebung, in einem fremden Land, bei fremden Menschen plötzlich meines. Vielleicht gerade, weil sie so gar nicht passten. Weil sie größer waren als mein kleiner Alltag zwischen Klavierunterricht und der Angst vor dem Sitzenbleiben.

    Zurück in Deutschland wurde es schwieriger. Ich kam auf´s internat und fand eine neue Peer Group, die ich liebte – die mich prägte bis heute und für die ich alles getan hätte. Und auch diese Peer Group war laut, ja, aber auf andere Weise. Punk, Sepultura, Grunge, Schweißer, die Neue Deutsche Härte: alles klang nach Zorn, nach Haltung, nach dem Willen zur Deutungshoheit. Iron Maiden dagegen war opulent, verspielt, unironisch. Ein bisschen zu viel Theater, zu wenig Gegenwart.

    Trotzdem. Ich hörte Maiden weiter, nahm sie auf Mixtapes, platzierte sie zwischen Nirvana und Atari Teenage Riot. Von meinen Freunden manchmal schief angeschaut, meistens ignoriert. Maiden war nicht cool! Nicht im Sinne der späten Neunziger, in denen man lernte, dass Ironie und Distanz das neue Pathos waren. Iron Maiden hingegen stand da wie eine gotische Kathedrale in einem Vorstadtpark: Zu groß, zu feierlich, irgendwie peinlich.

    Aber ich liebte sie. Weil sie diese seltsame Mischung bot: Große Themen, aber keine Belehrung. Gewalt, Krieg, Geschichte! Nicht glorifiziert, sondern durchlebt. Paschendale ist ein Antikriegslied, ohne dass man es merkt. Afraid to Shoot Strangers ein moralisches Dilemma in Musikform. Alexander the Great eine Geschichtsstunde in sieben Minuten. Triumphal und tragisch zugleich.

    Und doch: Auch unter Maiden-Fans war ich nie wirklich zu Hause. Viele waren älter, viele kamen aus anderen Milieus. Jeanswesten, Tattoos, White Working Class. Fliesenleger, LKW-Fahrer, Müllmänner, Gabelstaplerfahrer. Menschen mit anderen Codes. Man merkt, wenn man dazugehört. Und wann nicht. Ich stand mit meinen akademischen Eltern, meinen Freunden aus Berlin, München und dem Internat, das andere als elitär empfanden, am Rand dieser Szene. Dazwischen, nicht drinnen. Und trotzdem dabei.

    Denn wenn ich die Songs höre, höre ich nicht mein Milieu, nicht meine Generation, sondern etwas in mir. Nicht das, was ich sein sollte. Sondern das, was ich irgendwo nur für mich war.
    Und jetzt dieses Konzert in der Waldbühne. 50 Jahre Iron Maiden. Eine Bühne, die einst als „Dietrich-Eckart-Bühne“ für Thingspiele der NS-Zeit erbaut wurde. Heute brodelt sie unter einem Feuerwerk aus Licht, Sound und einem Song wie Fear of the Dark, das in dieser Kulisse fast sakral wirkt.

    Ich stehe neben meinem Sohn, der alles mitmacht. Mit offenen Augen, mit lauter Stimme. Er trägt ein Shirt, ich trage ein Shirt. Wir sind Fans. Aber wir sind es auf unsere Weise. Keine Uniform. Kein Kanon. Nur eine gemeinsame Erfahrung.
    Ich denke an all die Male, in denen ich diese Lieder gehört habe. In Zügen, auf langen Fahrten, spät nachts im Kopfhörer. Nie, weil sie angesagt waren. Nie, weil andere sie hören wollten. Sondern weil sie in mir etwas berührten: ein Zittern, ein Bild, ein Satz. Eine Form von eigener Wahrhaftigkeit.

    Ich hätte mir früher gewünscht, dass mehr Menschen mich dabei verstanden hätten. Aber vielleicht war das nie der Punkt. Vielleicht geht es nicht darum, verstanden zu werden. Sondern darum, etwas zu verstehen, über sich selbst. Und zu akzeptieren, dass nicht alles aufgehen muss.

    Denn MAiden passt ja nie. Nicht zur Peer Group, nicht zur Szene, nicht zur popkulturellen Landkarte meiner Generation. Und vielleicht genau deshalb war die Band für mich wertvoll. Ein Ort, an dem ich sein konnte, irgendwie ohne Erlaubnis. Ohne Passierschein. Es passte nicht und ich achte mirr: „Umso besser“. Weil dann etwas entsteht, das nicht von außen bestimmt wird.

    Und jetzt: Licht. Krach. Waldbühne. Maiden. Das Kind steht auf, lässt sich mitreißen von der Melodie. Ich auch. Ein fragmentarisches Glück, nicht erklärbar. Aber für uns aufrichtig.
    Und das reicht.

  • Vietnam, das verschluckte Land

    Warum die Linke über ihren symbolischen Sieg nie wieder sprechen wollte

    Vor ein paar Tagen habe ich mit meiner Tochter Forrest Gump gesehen. Diesen großartigen Film über Amerika, als es zwar zerrissen aber im Kern noch gut war. Vielleicht habe ich den Film ausgesucht, weil ich ihr zeigen wollte, was Amerika mal war – was es in meinen Augen hoffentlich irgendwo noch ist. Aber als der Film vorbei war, fragte sie mich etwas, womit ich nicht gerechnet hatte: „Wie ging es dann eigentlich weiter in Vietnam?“. Die Kriegsszene im Dschungel hatte sie offenbar getroffen. Der Tod von Bubba, das unaufhörliche Trommeln des Regens, das sinnlose Sterben in fremder Erde. Auch die Proteste der Hippies gegen den Krieg, zu denen Forrest unfreiwillig stößt. Sie sah mich an, erwartungsvoll, als gäbe es eine klare Antwort. Ich sagte fast automatisch: „Die Vietnamesen haben gewonnen. Und die Amerikaner verloren.“ Sie dachte kurz nach, dann fragte sie noch einmal: „Und dann?“ Ich wusste es nicht. Nicht wirklich. Also las ich nach. Erst Wikipedia, dann weiter, ein bisschen hier, ein bisschen dort. Ein Abend, ein „rabbit hole“. Und plötzlich war ich mittendrin. Nicht im Krieg, sondern in der großen Leerstelle, die er hinterließ. In der Stille danach. Eine Stille in der ich groß geworden bin.

    Szene aus Forrest Gump von 1994

    Ich bin Jahrgang 1982, geboren in einer westberliner Welt, die links war, oder es wenigstens sein wollte. In meinem Umfeld las man die taz, trank Kaffe aus Nicaragua, fuhr R4, sprach über Lateinamerika, über Palästina, über Chile. Kuba war ein Faszinosum, eine Projektionsfläche zwischen Tropenromantik und Dogmenstreit. Aber Vietnam? Vietnam war seltsam abwesend. Ich wusste: Da war mal was. Ein schlimmer Krieg. Die Amerikaner haben verloren. Die Vietnamesen haben gewonnen. Und das war’s. Es war eine abgeschlossene Geschichte, eine moralische Pointe: Der koloniale Westen wurde in die Schranken gewiesen. Eine Art ideologischer Schlussstein der 68er Erzählung. Was danach kam, interessierte niemanden. Ich kann mich an keine Diskussion erinnern, an kein Poster, keine Solidaritätsaktion, kein Gespräch. Vietnam war durch.

    Was ich nun las, holte diese Abwesenheit mit Macht zurück. Ich las von Umerziehungslagern, in die Hunderttausende gesteckt wurden. Von Kadern, die nach dem Krieg den Süden disziplinierten, enteigneten, zwangsumsiedelten. Von der brutalen Kollektivierung, in der ganze Familien aus Saigon in Dschungelregionen deportiert wurden, ohne Versorgung, ohne Plan, ohne Rückkehr. Ich stieß auf die Geschichte der Boatpeople. Ein Begriff, der mir zwar geläufig war, der aber in meiner Jugend nie mit konkretem Inhalt gefüllt wurde. Ich wusste: Menschen flohen übers Meer. Aber dass es Hunderttausende waren, dass sie von Piraten überfallen wurden, in Lagern strandeten, an Europas Küsten scheiterten – das war mir neu. Ich hatte nie nachgefragt. Und niemand hatte erzählt.

    Was ich dagegen kannte, war der Name Ho Chi Minh. Er fiel mit einer bestimmten Intonation, so wie man einen entfernten, aber geachteten Verwandten erwähnt. „Onkel HoChi“, sagte man in einem Tonfall, in dem Zuneigung und Respekt mitschwangen. Ich glaube, meine Mutter sprach einmal so von ihm, halb aus Gewohnheit, halb aus einem verschwundenen Selbstverständnis. Damals, in der Logik der Antiimperialisten, war er eine Identifikationsfigur – weise, entschlossen, gerecht. Ich sah ihn auf Schwarz-Weiß-Fotos, schmal, bärtig, in leichter Felduniform. Dass er auch der Architekt eines autoritären Staates war, in dem es keine Opposition geben durfte, kein freies Wort, kein privates Eigentum, das spielte in meiner Jugend keine Rolle. Die Siegergeschichte war abgeschlossen. Alles andere störte nur das Bild.

    Und vielleicht ist das die eigentliche Pointe: Dass dieser große moralische Sieg der westlichen Linken nie verarbeitet wurde, weil er sich nicht in Triumph verwandeln ließ. Die Geschichte hatte ein gutes Ende, aber das Ende war nicht gut. Der Krieg war vorbei, die Befreier regierten – und sie regierten hart. Aber niemand wollte das hören. Denn man hatte so viel gehofft, so viel investiert, so sehr gewünscht, dass das Richtige auch das Bessere sei, dass es schwerfiel, das Ergebnis zur Kenntnis zu nehmen. Also schwieg man. Nicht aus Böswilligkeit. Sondern aus Verlegenheit.

    Denn was hätte man sagen sollen? Dass die Revolution zwar siegte, aber keine Gerechtigkeit brachte? Dass die amerikanischen Bomben ein Land verwüsteten, aber das politische System, das sich danach etablierte, nicht viel menschenfreundlicher war? Dass die Linke auf der richtigen Seite stand, aber nichts mehr zu sagen hatte, als ihre Seite gewann?

    Man sprach stattdessen über anderes. Über Reagan, über Thatcher, über die FDP. Über neoliberale Zumutungen, Privatisierung, den Sozialstaat. Man fand neue Gegner, neue Frontlinien, neue Geschichten. Vietnam war erledigt. Vielleicht auch: peinlich. Ein Schatten auf der eigenen Projektion. Ein Sieg, der einen seltsamen Nachgeschmack hinterließ. Der nicht als Beispiel taugen wollte. Und deshalb auch nicht erinnert wurde.

    Dabei wäre gerade dieser Sieg Anlass genug gewesen, über die Grundannahmen nachzudenken. Über den Zusammenhang von Gewalt und Herrschaft, von Ideologie und Machtpraxis, von Sieg und Verantwortung. Aber das wäre mühsam gewesen. Widersprüchlich. Und die Linke ist leider bis heute nicht gut im Aushalten von Ambivalenz. Sie ist moralisch stark, aber historisch schwach. Ihre Kritik durchaus präzise aber ihre Erinnerung selektiv. Und so verschwand Vietnam aus dem Gespräch.

    Heute ist das Land ein aufstrebender Industriestaat mit Sonderwirtschaftszonen, Exportquoten und beeindruckendem Wachstum. Es gibt einen Einparteienstaat, keine freien Wahlen, keine echte Opposition. Wer öffentlich Kritik äußert, riskiert Verhaftung. Gleichzeitig ist Vietnam wirtschaftlich offener, flexibler, ja fast schon libertärer als viele westliche Staaten. In mancher Hinsicht sind die Kräfte des Marktes dort weniger gebändigt, weniger sozial, weniger reguliert als hier. Eine Diktatur, in der das Kapital freier wirken darf als die Bürger.

    Nach dem Film saß ich also mit meiner Tochter auf dem Sofa. Und sie fragte mich: „Jetzt sag doch, wie war das dann mit Vietnam?“ Ich sagte: „Sie haben gewonnen.“ Und nach einer Pause: „Und dann wurde es sehr still.“