Die harte Wahrheit – Teil 1

Der funktionierende Widerspruch

Dies ist Teil  1 einer siebenteiligen Serie über politische Strategie, Klimapolitik, Widerspruch und die Frage, wie Systeme überleben, die sich selbst nicht genügen. Die Texte entstanden im Rahmen einer Chinareise im September 2025, gemeinsam mit einer Wirtschaftsdelegation. Die Texte sind bewusst essayistisch, zugespitzt, manchmal spekulativ. Die Fakten stimmen im Großen. Die Perspektive ist meine. Feedback jederzeit willkommen.

Manchmal kommt man ja rum. Ich jedenfalls bin zum ersten Mal in meinem Leben in China. Eingeladen als Teil einer Delegation, wie das so heißt. Vorträge, Kennzahlen, Besichtigungen. Alles sehr aufgeräumt, effizient, geleitet. Aber dann gibt es diese Momente, die sich nicht in Zahlen auflösen lassen. Momente, die nicht einfach informieren, sondern verstören. Die einen zwingen, genauer hinzusehen. Über das hinaus, was sich messen lässt.

So einer ist der Blick aus meinem Hotelzimmer in Shanghai. Er geht nach Osten, über den Huangpu-Fluss hinweg, in den Stadtteil Pudong. Was vor 30 Jahren ein Brachland war, etwas Dschungel, ein paar Baracken, viel Schlamm, ist heute eine der modernsten Skylines der Welt. Türme aus Glas und Stahl, so hoch und schlank wie die Ambitionen. Eine vertikale Botschaft an die Zukunft. Und irgendwo dazwischen: eine rote Fahne. Nicht imposant, eher beiläufig. Aber sie ist da. Und sie stellt eine Frage, die sich nicht so leicht abschütteln lässt: Wie passt diese Symbolik des Kommunismus zu dieser Architektur des Kapitalismus?

Die Skyline von Shanghai bei Nacht
Die Skyline von Shanghai bei Nacht – Foto: Justus Wilhelm

Widerspruch als Betriebsmodus

Für westliche Augen ist das ein Widerspruch. Die rote Fahne steht für Einparteiensystem, Klassenkampf, Planwirtschaft. Die Skyline für Börsenkurse, Private Equity, Tech-Innovation. Und doch stehen sie hier nicht gegeneinander. Sie stehen nebeneinander. Ohne erklärendes Schild, ohne ironischen Kommentar. Es ist, als würde hier etwas zusammengehen, das bei uns immer auseinanderfällt.

China ist heute eine autoritär regierte Industrienation mit einer leninistisch organisierten Staatspartei, die auf dem Papier dem Marxismus verpflichtet ist und zugleich einem Wirtschaftssystem, das in mancher Hinsicht kapitalistischer agiert als jede westliche Volkswirtschaft. Es gibt Venture-Capital-Fonds, Start-up-Kultur, Börsenboom. Und doch entscheidet am Ende nicht der Markt, sondern die Partei. Dass dieser Widerspruch hält, liegt nicht daran, dass er theoretisch gut begründet wäre. Sondern daran, dass er sich bewährt hat.

Man könnte sagen: China ist das erste Land, das den Kapitalismus instrumentalisiert hat, ohne sich ihm ideologisch zu unterwerfen. Kapitalismus nicht als Endpunkt, sondern als Werkzeug. Nicht als Glaubenssatz, sondern als Methode. Das ist keine liberale Erfolgsgeschichte, aber eine strategische.

Der Mann, der es entschieden hat

Der beeindruckende Weg Chinas basiert nicht auf historischem Glück, sondern auf einer harten Entscheidung. Und diese Entscheidung hat einen Namen: Deng Xiaoping. Während Mao das revolutionäre Selbstbild Chinas prägte, war es Deng, der die Grundlagen für die ökonomische Realität legte, die wir heute bestaunen. Und das aus einer Lage heraus, die kaum schwieriger hätte sein können.

1992 – Deng war 87, längst ohne offizielles Amt, aber mit uneingeschränkter Autorität. Drei Jahre zuvor hatte das Massaker auf dem Tian’anmen das Land erschüttert, der Westen hatte sich abgewendet, die Sowjetunion war implodiert. Das chinesische System wankte. Die Reformer waren entmachtet, die alten Kader zurück. Das Land stand an einem ideologischen Abgrund: Soll man sich wieder abschotten, oder den Sprung ins Ungewisse wagen?

In dieser Situation der Unsicherheit reiste Deng in den Süden des Landes. Nicht nach Peking, sondern nach Shenzhen, Zhuhai, Guangzhou. In die Sonderwirtschaftszonen, die er selbst hatte schaffen lassen. Orte, an denen China heimlich ausprobierte, wie viel Kapitalismus es sich leisten konnte, ohne die Kontrolle zu verlieren. Und dort, inmitten von Baustellen und ersten Exportfabriken, sprach er die Sätze, die China bis heute prägen: „Einige dürfen zuerst reich werden“ und „Es ist egal, ob die Katze weiß oder schwarz ist, solange sie Mäuse fängt.“ Schließlich aber vor einer Schaar bestellter Arbeiter mit roten Fähnchen: „Entwicklung ist die harte Wahrheit.“

Was Deng eigentlich meinte

Das war kein Bekenntnis zur Marktwirtschaft. Es war ein Bruch mit der Ideologie, aber kein Bruch mit der Macht. Deng erkannte, was Gorbatschow falsch gemacht hatte: Der Vater von Perestroika und Glasnosk hatte politische Öffnung gewagt aber ohne ökonomische Leistungsfähigkeit. Deng drehte es nunum: Wirtschaftliche Freiheit aber politisch hart kontrolliert. Wachstum ja, aber gelenkt. Kapitalismus ja, aber auf Widerruf und ohne politische Freiheit.

Daraus entstand ein System, das kein anderes kopiert, sondern sich selbst gebaut hat. Ein Modell, das Widerspruch nicht als Mangel, sondern als Strategie begreift. Die Zahlen sprechen für sich: Zwischen 1990 und 2020 wuchs das BIP um das 35-Fache. Über 800 Millionen Menschen wurden aus der Armut geholt. China ist heute der größte Exporteur der Welt, der größte CO₂-Emittent, aber auch zugleich der größte Investor in Erneuerbare. Es hat mehr Hochgeschwindigkeitsstrecken als der gesamte Westen. Und in Bereichen wie KI, E-Commerce und medizinischer Forschung ist es gleichauf mit oder vor den USA. Wenn irgendwo in den nächsten Jahren Krebs besiegt wird, dann sehr wahrscheinlich in China.

Das ist nicht schönfärberisch. Es ist schlicht: reale Wirksamkeit.

Und diese Wirksamkeit hat längst geopolitische Konsequenzen. China investiert weltweit in Infrastrukturen, schafft neue Institutionen, neue Allianzen. Es bietet nicht Ideologie an, sondern Funktionalität. Es sagt nicht: „Werdet wie wir.“ Es sagt: „Schaut, es geht auch so.“

Die Börse in Shenzhen – Ein Erbe der Politik von Deng Xiaoping

Und wir?

Was also folgt daraus für uns, die wir auf diese Skyline blicken, vielleicht mit Bewunderung, vielleicht mit Sorge, wahrscheinlich mit beidem? Was lernen wir von einem Mann, der sagte, dass es in der Politik nicht auf das richtige Denken ankommt, sondern auf das funktionierende Handeln?

Vielleicht dies: Dass auch wir beginnen müssen, Widersprüche auszuhalten, ohne sie sofort auflösen zu wollen. Dass auch wir in einer Lage sind, in der es nicht reicht, recht zu haben, sondern wirken zu müssen. Dass auch unsere politischen Systeme Legitimität nur behalten, wenn sie Wohlstand liefern können. Und dass das unter Umständen heißt: Industriepolitik zu machen, Versorgungssicherheit zu garantieren, Übergänge zu akzeptieren, die nicht perfekt sind, aber nötig.

Deng hat nie behauptet, dass sein Weg ideologisch rein sei. Nur, dass er funktioniert.
Und deshalb widersprechen sich die rote Fahne und die gläsernen Bürotürme nicht.
Sie funktionieren miteinander. Und das sollte uns zu denken geben.

Denn vielleicht liegt in diesem Widerspruch eine Logik, die auch wir für uns fruchtbar machen müssten. Nicht als Kopie, sondern als Ausgangspunkt. Für ein neues Verhältnis von Strategie und Moral. Für eine demokratisch liberale Politik, die nicht scheitert, weil sie alles richtig meint, sondern überlebt, weil sie wirkt.

Denn moralische Reinheit überzeugt manche. Wirtschaftlicher Erfolg überzeugt alle.

Vielleicht ist das die Zumutung, die bleibt, wenn man lange genug auf Pudong schaut.
Und sich fragt, ob wir eigentlich bereit sind, ebenfalls hart zu entscheiden, bevor uns andere Entscheidungen abnehmen.

Vielleicht ist der Satz, den wir für die großen Herausforderungen unserer Zeit brauchen, einer, der Deng erstaunlich nahe kommt. Ein Leitgedanke, der nicht aus Lust an Subventionen formuliert ist. Eine Strategie, die nicht als Rückfall in alte Rezepte der 90er gelesen werden muss. Sondern als strategische Notwendigkeit in einer Zeit, in der Wohlstand kein Nebenprodukt mehr ist, sondern die Voraussetzung für Klimaschutz, Demokratie und internationale Souveränität gegen Staaten wie Russland.

Dieser Leitgedanke könnte heißen: Industriepolitik ist die harte Wahrheit.

In Teil  2 – „Die Lüge vom schnellen Wandel“ verlassen wir Shanghai und blicken zurück nach Europa. Ausgehend von dem Dilemma, in dem Deng steckte (und das er durch den Bruch mit der eigenen Ideologie löste), stellen wir uns die Frage: Was tun, wenn das Ziel richtig ist, der Weg aber blockiert? Wenn Reinheit nicht trägt, aber Wirkung nötig wird? Während bei uns Wärmepumpen in Katalogen stehen und Wasserstoff ein Versprechen in PowerPoint bleibt, rückt eine unbequeme Frage in den Vordergrund: Müssen auch wir das Gegenteil von dem tun, was wir wollen, um im Spiel zu bleiben und unsere Interessen durchzusetzen? Vielleicht ist genau das die eigentliche Transformation.