Warum die Linke über ihren symbolischen Sieg nie wieder sprechen wollte
Vor ein paar Tagen habe ich mit meiner Tochter Forrest Gump gesehen. Diesen großartigen Film über Amerika, als es zwar zerrissen aber im Kern noch gut war. Vielleicht habe ich den Film ausgesucht, weil ich ihr zeigen wollte, was Amerika mal war – was es in meinen Augen hoffentlich irgendwo noch ist. Aber als der Film vorbei war, fragte sie mich etwas, womit ich nicht gerechnet hatte: „Wie ging es dann eigentlich weiter in Vietnam?“. Die Kriegsszene im Dschungel hatte sie offenbar getroffen. Der Tod von Bubba, das unaufhörliche Trommeln des Regens, das sinnlose Sterben in fremder Erde. Auch die Proteste der Hippies gegen den Krieg, zu denen Forrest unfreiwillig stößt. Sie sah mich an, erwartungsvoll, als gäbe es eine klare Antwort. Ich sagte fast automatisch: „Die Vietnamesen haben gewonnen. Und die Amerikaner verloren.“ Sie dachte kurz nach, dann fragte sie noch einmal: „Und dann?“ Ich wusste es nicht. Nicht wirklich. Also las ich nach. Erst Wikipedia, dann weiter, ein bisschen hier, ein bisschen dort. Ein Abend, ein „rabbit hole“. Und plötzlich war ich mittendrin. Nicht im Krieg, sondern in der großen Leerstelle, die er hinterließ. In der Stille danach. Eine Stille in der ich groß geworden bin.

Ich bin Jahrgang 1982, geboren in einer westberliner Welt, die links war, oder es wenigstens sein wollte. In meinem Umfeld las man die taz, trank Kaffe aus Nicaragua, fuhr R4, sprach über Lateinamerika, über Palästina, über Chile. Kuba war ein Faszinosum, eine Projektionsfläche zwischen Tropenromantik und Dogmenstreit. Aber Vietnam? Vietnam war seltsam abwesend. Ich wusste: Da war mal was. Ein schlimmer Krieg. Die Amerikaner haben verloren. Die Vietnamesen haben gewonnen. Und das war’s. Es war eine abgeschlossene Geschichte, eine moralische Pointe: Der koloniale Westen wurde in die Schranken gewiesen. Eine Art ideologischer Schlussstein der 68er Erzählung. Was danach kam, interessierte niemanden. Ich kann mich an keine Diskussion erinnern, an kein Poster, keine Solidaritätsaktion, kein Gespräch. Vietnam war durch.
Was ich nun las, holte diese Abwesenheit mit Macht zurück. Ich las von Umerziehungslagern, in die Hunderttausende gesteckt wurden. Von Kadern, die nach dem Krieg den Süden disziplinierten, enteigneten, zwangsumsiedelten. Von der brutalen Kollektivierung, in der ganze Familien aus Saigon in Dschungelregionen deportiert wurden, ohne Versorgung, ohne Plan, ohne Rückkehr. Ich stieß auf die Geschichte der Boatpeople. Ein Begriff, der mir zwar geläufig war, der aber in meiner Jugend nie mit konkretem Inhalt gefüllt wurde. Ich wusste: Menschen flohen übers Meer. Aber dass es Hunderttausende waren, dass sie von Piraten überfallen wurden, in Lagern strandeten, an Europas Küsten scheiterten – das war mir neu. Ich hatte nie nachgefragt. Und niemand hatte erzählt.
Was ich dagegen kannte, war der Name Ho Chi Minh. Er fiel mit einer bestimmten Intonation, so wie man einen entfernten, aber geachteten Verwandten erwähnt. „Onkel HoChi“, sagte man in einem Tonfall, in dem Zuneigung und Respekt mitschwangen. Ich glaube, meine Mutter sprach einmal so von ihm, halb aus Gewohnheit, halb aus einem verschwundenen Selbstverständnis. Damals, in der Logik der Antiimperialisten, war er eine Identifikationsfigur – weise, entschlossen, gerecht. Ich sah ihn auf Schwarz-Weiß-Fotos, schmal, bärtig, in leichter Felduniform. Dass er auch der Architekt eines autoritären Staates war, in dem es keine Opposition geben durfte, kein freies Wort, kein privates Eigentum, das spielte in meiner Jugend keine Rolle. Die Siegergeschichte war abgeschlossen. Alles andere störte nur das Bild.
Und vielleicht ist das die eigentliche Pointe: Dass dieser große moralische Sieg der westlichen Linken nie verarbeitet wurde, weil er sich nicht in Triumph verwandeln ließ. Die Geschichte hatte ein gutes Ende, aber das Ende war nicht gut. Der Krieg war vorbei, die Befreier regierten – und sie regierten hart. Aber niemand wollte das hören. Denn man hatte so viel gehofft, so viel investiert, so sehr gewünscht, dass das Richtige auch das Bessere sei, dass es schwerfiel, das Ergebnis zur Kenntnis zu nehmen. Also schwieg man. Nicht aus Böswilligkeit. Sondern aus Verlegenheit.
Denn was hätte man sagen sollen? Dass die Revolution zwar siegte, aber keine Gerechtigkeit brachte? Dass die amerikanischen Bomben ein Land verwüsteten, aber das politische System, das sich danach etablierte, nicht viel menschenfreundlicher war? Dass die Linke auf der richtigen Seite stand, aber nichts mehr zu sagen hatte, als ihre Seite gewann?
Man sprach stattdessen über anderes. Über Reagan, über Thatcher, über die FDP. Über neoliberale Zumutungen, Privatisierung, den Sozialstaat. Man fand neue Gegner, neue Frontlinien, neue Geschichten. Vietnam war erledigt. Vielleicht auch: peinlich. Ein Schatten auf der eigenen Projektion. Ein Sieg, der einen seltsamen Nachgeschmack hinterließ. Der nicht als Beispiel taugen wollte. Und deshalb auch nicht erinnert wurde.
Dabei wäre gerade dieser Sieg Anlass genug gewesen, über die Grundannahmen nachzudenken. Über den Zusammenhang von Gewalt und Herrschaft, von Ideologie und Machtpraxis, von Sieg und Verantwortung. Aber das wäre mühsam gewesen. Widersprüchlich. Und die Linke ist leider bis heute nicht gut im Aushalten von Ambivalenz. Sie ist moralisch stark, aber historisch schwach. Ihre Kritik durchaus präzise aber ihre Erinnerung selektiv. Und so verschwand Vietnam aus dem Gespräch.
Heute ist das Land ein aufstrebender Industriestaat mit Sonderwirtschaftszonen, Exportquoten und beeindruckendem Wachstum. Es gibt einen Einparteienstaat, keine freien Wahlen, keine echte Opposition. Wer öffentlich Kritik äußert, riskiert Verhaftung. Gleichzeitig ist Vietnam wirtschaftlich offener, flexibler, ja fast schon libertärer als viele westliche Staaten. In mancher Hinsicht sind die Kräfte des Marktes dort weniger gebändigt, weniger sozial, weniger reguliert als hier. Eine Diktatur, in der das Kapital freier wirken darf als die Bürger.
Nach dem Film saß ich also mit meiner Tochter auf dem Sofa. Und sie fragte mich: „Jetzt sag doch, wie war das dann mit Vietnam?“ Ich sagte: „Sie haben gewonnen.“ Und nach einer Pause: „Und dann wurde es sehr still.“
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