DAUERT NOCH EIN BISSCHEN – ABER WIRD MEGA!

Als ich einmal dachte, wir fahren nur am ICC vorbei.

Gestern war ich mal wieder in Berlin. Eine Tante in Charlottenburg hatte eingeladen. Und auf dem Weg dorthin kamen wir am ICC vorbei. Schon als Kind fand ich das ICC toll. Ein Alien in Aluminium, das sich noch nicht entschieden hatte, ob es eine Konferenz oder den Weltuntergang ausrichten will. Es hatte keine Fenster, sondern Sehschlitze. Keine Eingänge, sondern Andockstellen.

Direkt gegenüber lag „Panda II“, der Lieblings-Chinese meiner Eltern. Von dort aus habe ich als Kind immer auf das ICC geschaut wie auf ein schlafendes Tier. Der Blick auf die A100 darunter, diesen gordischen Verkehrsknoten, war wie Fernsehen. Viele sagen, dieser Ort sei sei hässlich. Ich finde, es ist einer der schönsten Orte der Welt.

Na jedenfalls, gestern also: Fahrt durch Charlottenburg. Ich saß hinten im Auto, die Fensterscheiben leicht beschlagen, draußen diese typische Berliner Novemberstimmung: grau, eklig, ein bisschen wie ungeklärtes Abwasser in Stadtform. Und dann sehe ich am ICC eine Plane: „DAUERT NOCH EIN BISSCHEN – ABER WIRD MEGA!“

Das ICC im Novemberlicht. Ncht mehr ganz von dieser Welt. Foto:privat

Berlin in einem Satz! Gleichzeitig Ausrede, Drohung, Liebesbrief und Witz. Der Satz klingt wie: „Jaja, wir sind seit 2014 dicht, aber trust the Prozess.“ Ich wollte lachen. Ich wollte fluchen. Aber dann verstand ich etwas: Wir wurden jahrelang getäuscht.

###ZEITSPRUNG### 

BZ – BERLINER ZEITUNG
Ausgabe vom 21. November 2082

RAUMSCHIFF! ICC hebt ab! Berlin fällt zurück in die Achtziger! Stadtschloss „PLOPP“ weg!

Berlin: Es ist 05:42 Uhr am Donnerstagmorgen, als die Hauptstadt für einen Moment stillzustehen scheint. Ein tiefes Summen liegt über dem Messedamm. Anwohner berichten von vibrierenden Gläsern in der Vitrine, leicht tanzenden Deckenlampen und einem „komischen Ziehen im Bauch“. Und dann geschieht es: Das ICC hebt ab!

„Ick dachte erst, dit ist wieder so’n TÜV-Test“, sagt Busfahrer Kevin T. (61), der mit der Linie X34 gerade am Theodor Heuß Platz ist. „Aber dann flog dit Ding einfach hoch!“

Um 05:47 Uhr fahren plötzlich hydraulische Ständer aus dem Boden. Sie waren seit 100 Jahren versteckt! Mit einem Geräusch, das wie eine Mischung aus kaputter Küchenmaschine und VHS-Player klingt, stemmt sich das ICC nach oben. Zentimeter, dann Meter. Es schwebt!

Seit Jahrzehnten war das ICC offiziell stillgelegt: Sanierungsfall, Asbest, Energiefresser, „unklare Nutzungsperspektive“. Nun stellt sich heraus: Es war nie ein Kongresszentrum. Sondern ein getarntes Raumschiff. Eine Flaggschiff der sogenannten Raumschiff-ICC-Klasse! Konstruiert als westberliner Verteidigungsmodul mit spezieller städtebaulicher Sensorik. Laut internen Unterlagen, die der BZ vorliegen, war das Schiff seit 1979 im Tarnmodus und sollte „im Fall gravierender architektonischer Fehlentwicklung“ automatisch aktiviert werden. Kritischer Trigger: das wiederaufgebaute Stadtschloss in Mitte.

Doch der Start des ICC wurde Jahrzehnte lang verhindert. Hervorgerufen durch ein Berliner Verwaltungswurmloch. Ein Genehmigungsantrag mit der Kennziffer B7.2-Solarabkopplung („Nutzung des Luftraums durch fliegende Baukörper“) war 1984 im Bezirksamt Charlottenburg falsch abgeheftet worden und in einer digitalen Schwebeschleife gelandet. Erst bei einer Test-Digitalisierung alter Akten Anfang 2082 tauchte das Dokument wieder auf. Durch einen Software-Fehler wurde es dabei automatisch als „still genehmigt“ verbucht. Der Startbefehl war frei.

„Wenn dit Formular nich verschütt jejangen wär, wär dit Ding schon abjeflogen, als se dit Schloss wider uffjebaut ham“, sagt eine Mitarbeiterin aus der Bauaufsicht, die anonym bleiben möchte. „Nu ham wa den Salat.“

Um 06:10 Uhr schwebt das ICC in Richtung des rekontruierten Stadtschlosses. Es verharrt in der Luft, eine Luke öffnet sich, und ein gleißender Strahl schießt nach unten. Das Gebäude beginnt zu flimmern, dann zu verpixeln. Unter einem deutlichen „Plopp“ löst sich das Schloss vollständig auf. Augenzeugen berichten von einem kurzen, hellen Geräusch, „wie ein Luftballon, der in Zeitlupe platzt“.

Zurück bleibt ein schimmernder Dunst auf dem Pflaster, der in der Morgensonne glitzert. Mehrere Passanten wollen einen Geruch wahrgenommen haben, den sie übereinstimmend als „Currywurst-mäßig“ beschreiben.

Noch bevor der Staub sich legt, knistert auf 88,8 MHz plötzlich eine Stimme: „Berlinerinnen und Berliner! Wir melden uns aus dem Orbit.“ Auf den Geräten erscheint ein Hologramm. Der geklonte Altregierende Bürgermeister Eberhard Diepgen, daneben der holographische David Bowie im Ziggy-Stardust-Outfit. 

„Das ICC hat eine architektonische Bedrohung neutralisiert“, erklärt Diepgen ruhig. Bowie ergänzt: „Wir wollten eigentlich schon früher starten, aber Sie wissen ja, wie das ist mit der Berliner Verwaltung.“ Laut seinen Angaben sei der Abflug mehrfach „aufgrund unvollständiger Unterlagen“ verschoben worden. Erst der digitale Fehler von 2082 habe die Blockade aufgehoben.

Während das Stadtschloss verschwindet, breitet sich vom Messedamm eine unsichtbare Welle über die Stadt aus. Zuerst sind es nur Details: Neonreklamen flackern, Glasfassaden wirken plötzlich matt, mehrere E-Scooter kippen wie auf Kommando zur Seite und bleiben reglos liegen. Dann wird der Effekt massiver. Großformatige LED-Bildschirme frieren ein und verwandeln sich in Reklameflächen aus Papier mit verblassten Marlboro-Logos. Am Ort des Humboldtforums erscheint der Palast der Republik, vollständig repliziert, inklusive Staatswappen der DDR, als wäre er nie weg gewesen. Sogar ein Trabbi knattert davor und sucht händeringend nach einer Tankstelle für Mischkraftstoff.

„Ick hab fast ’nen Herzinfarkt bekommen“, sagt Ingrid S. (79) aus Köpenick, die zufällig vor Ort war. „Eben war noch dit Schloss, und auf einmal war da wieder unser Palast. Nur die Leute drumrum sahen aus wie Zukunft, mit ihre Brillen und Jeräten, die plötzlich keen Empfang mehr hatten.“

Im gesamten Stadtgebiet melden Menschen merkwürdige Phänomene. Moderne Autos verlieren ihre digitale Anzeige, Radios schalten auf mono und spielen auf 100,6 in Endlosschleife das Deutschlandlied. An der oberen Kantstraße erscheint geisterartig ein Beate Uhse Komplex. Ein Mann in Friedrichshain will beobachtet haben, wie ein Coworking-Space in Echtzeit zu einem Foto-Laden mit Passbildangebot und Zigarettenregal rückverwandelt wurde. Auf der Avus tauchen plötzlich mehrere alte Mercedes W123 und ein einzelner VW-Käfer auf, die sich brav in Dreilinden zur Passkontrolle einreihen. In Kreuzberg berichten Anwohner, dass eine Craft-Beer-Bar vor ihren Augen wieder zur „Raucherkneipe mit Schultheiß und Dartscheibe“ wurde. Datenleitungen brechen zusammen, Streamingdienste zeigen Störungen, Lieferdienste bleiben stehen, weil ihre Apps nur noch „404: 1982 not found“ anzeigen.

„Wir beobachten eine partielle Rückkehr in den städtebaulichen und kulturellen Zustand der frühen Achtzigerjahre“, sagt Stadtsoziologin Dr. Emilia Stern live im rbb. „Allerdings trifft diese Regression auf eine Bevölkerung, die mental längst im 21. Jahrhundert lebt. Das ergibt Spannungen.“ Die Eilmeldungen überschlagen sich. Die Polizei meldet „ungeklärte Veränderungen im Stadtbild“. Die BVG informiert, dass mehrere neu eingeführte Linien „vorübergehend entfallen“, während alte Liniennummern plötzlich wieder auf den Anzeigetafeln auftauchen. Ein Sprecher: „Warum jetzt wieder ein TXL-Shuttle-Bus fährt, können wir noch nicht sagen. Wir sind dran.“ Er ergänzt: „Die U5 verkehrt übrigens nur noch bis Alexanderplatz. Fernreisende bitte am Bahnhof Zoo einsteigen.“

Der Senat gibt gegen 07:00 Uhr eine erste Stellungnahme ab. Man nehme die „Ereignisse rund um das ICC sehr ernst“ und habe einen „Historischen Krisenstab 1982“ einberufen. Man prüfe derzeit, ob der Abflug des ICC „genehmigungspflichtig“ gewesen sei und ob die rückwärtige Stadtverwandlung als „bauliche Veränderung“ zu werten sei.

In der Abgeordnetenhaus-Sondersitzung fordert die Opposition die sofortige Einsetzung eines „Runden Tisches Orbitalverkehr Berlin“. Die Landesdenkmalpflegerin verlangt „ein Moratorium für raumfahrende Baudenkmäler“, die Piratenpartei „ein Recht auf Gegenwart für alle Berlinerinnen und Berliner“. Die Grünen möchten die „emissionsrechtliche Seite des Lichtstrahls“ geprüft wissen, die FDP sieht „enormes Start Up Potenzial für das ICC und ganz Berlin“, das gleichzeitig 1982 und 2082 ist. Ein Vertreter der Linken fordert „Mietpreisobergrenzen auch in der Vergangenheit.

In Spandau erklärt ein Bezirksverordneter, man sei „faktisch schon immer von Berlin unabhängig“ gewesen und sehe „keinen Anlass, sich stadtweiteren Zeitanpassungen zu unterwerfen“. Eine Initiative fordert, das Strandbad Wannsee nun offiziell zum Regierungssitz zu machen: „Da weiß man wenigstens, woran man ist: Wasser, Wald, Wurst.“ Der Verein „Bierpinsel bleibt“ bietet an, den Turm in Steglitz zum „Kontrollzentrum für Raum-Zeit-Verwerfungen“ auszubauen.

Architekturhistoriker Prof. Jonas Sieber von der TU ordnet das Geschehen im rbb ein: „Wir haben das ICC jahrlang falsch interpretiert, nicht als Fehlplanung, sondern als Schutzmechanismus.“ Auf die Frage, ob die Stadt jetzt dauerhaft im Jahr 1982 festhänge, antwortet er: „Nein. Sie hängt gleichzeitig im Jahr 1982, 2022 und 2082. Berlin war schon immer schlecht darin, sich für eine Zeit zu entscheiden.“

Gegen 07:12 Uhr steigt das ICC höher, über den Funkturm, dreht eine langsame Runde über dem Tiergarten und beschleunigt. Auf der Außenhülle erscheint eine letzte Botschaft: „Macht´s jut und danke für die Wurst.“ Dann verschwindet das Raumschiff im Morgenhimmel.

Auf dem Boden schließt Busfahrer Kevin T. die Tür seines X34-ers wieder auf, nimmt einen Schluck lauwarmen Kaffee aus dem Pappbecher und blickt kurz auf die Stelle, wo eben noch das ICC war. Hinter ihm liegt jetzt eine Art Brache, die irgendwie sehr stimmig aussieht. „Jut“, sagt er, setzt den Blinker und zieht an. „Denn ham der Diepgen und der Bowie doch unter eener Decke jesteckt… Hab ick doch schon imma jewusst.“